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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein
Autoren: Gabriele Beyerlein
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wollen, daß die Gefahr nicht dadurch aus der Welt ist, daß man ihr einmal entkommen konnte. Ich werde nie begreifen, daß ein so weiser Mann so blind sein konnte, aber du, Großmutter, hast dir doch sonst nichts vorgemacht! Willst du jetzt damit anfangen?!« Damit verließ Ri-Wirrkon das Haus so stürmisch, wie er es betreten hatte. Die Jungen rannten hinter ihm her.
    Haibe starrte auf den kleinen Blutfleck auf dem Kittel, an dem sie gearbeitet hatte. Ein Kittel für Ri-Wirrkon. Abergläubische Furcht ergriff sie. Hastig wusch sie das Blut aus dem Kleidungsstück, warf es in den Korb, steckte den Finger in den Mund und begann mit der anderen Hand die Suppe umzurühren.
    Zirrkan hat es nicht sehen wollen ...
    Zirrkan lag mit geschlossenen Lidern, den Mund halb geöffnet, die Wangen eingefallen, die Augen umschattet. Zum Greifen deutlich waren die Schwingen der Eule zu spüren. Ihn, der so viele geheilt hatte, konnte niemand mehr heilen.
    Sie neigte sich über ihn, sprach ihm ins Ohr: »Ich habe nach der Priesterin geschickt.«
    Da schrie er wie ein waidwundes Tier, ein Ton, der alle Schmerzen eines ganzen Lebens, alle Schmerzen der Welt zu bündeln schien in einem einzigen herzzerreißenden Klagelaut. Und sie begriff: Er schrie nicht vor körperlicher Pein.
    Sie faßte nach seiner Hand, hielt sie. »Zirrkan«, sagte sie leise, »du hast getan, was menschenmöglich war. So viele hast du gerettet und ihnen eine neue Heimat gegeben. Nun darfst du in Frieden Abschied nehmen.«
    Wieder klagte er. Der Ton durchdrang ihre Eingeweide. Sie sah die raschen Augenbewegungen unter den geschlossenen Lidern, sie hörte seinen stoßweise gehenden, immer schneller werdenden Atem, und sie spürte, als wär' sie es selbst: Er erlebte alles noch einmal. So, wie es gewesen war. Und doch anders, von einer höheren Warte aus. Nun sah er auch das, was er nie gesehen hatte. Das, was unvollkommen geblieben war. Und das, was kommen würde.
    Er klagte.
    Ach Zirrkan, Geliebter. Alles, was wir taten, diente dem Bestreben, die heilige Ordnung zu retten, zu erhalten, wiederherzustellen. Und tausendfach haben wir sie mit Füßen getreten.
    Unser Traum. Es könnte alles wieder so werden, wie es war. Glaubten wir je daran, wirklich?
    Warum hast du zugelassen, daß die anderen dich auf dem Zug nach Norden mehr zu ihrem Führer machten, als es deine bloße Kenntnis des Weges gerechtfertigt hätte, warum hast du diese Handvoll tüchtiger Männer um dich geschart, die mit dir alle Probleme zu lösen wußten, warum hast du nichts dagegen getan, daß dies so beibehalten wurde, auch noch während des Aufbaus der Dörfer hier – und darüber hinaus?
    Und ich? Sah ich es etwa nicht? Schwieg ich nicht dazu, weil ich meinte, es würde uns helfen, schneller zum Ziel zu gelangen, schneller das Übermaß an Arbeit und an Schwierigkeiten zu bewältigen, als wenn wir nach alter Gewohnheit jede Frage des langen und breiten in allgemeinen Versammlungen klärten?
    Doch, ich sah es und schwieg. Nur mit dir habe ich darüber gesprochen, und allzu schnell habe ich mich deiner Meinung angeschlossen: Alles war gut, das uns half, möglichst bald wieder zur alten Ordnung zurückzufinden.
    Wir haben nicht beherzigt, was du selbst doch Ritgo gegenüber vertreten hast: Der falsche Weg kann nicht an das richtige Ziel führen.
    So weit hatten wir uns schon von unseren Ursprüngen entfernt, ich sowieso, aber auch du, Zirrkan, mein Mann, mein Geliebter.
    Wir wußten sehr wohl, daß wir nicht mehr die waren, die wir sein wollten. Wir trösteten uns damit, daß es unsere Aufgabe sei, den anderen den Boden zu bereiten. Die nach uns sollten wieder frei sein, in der heiligen Ordnung zu leben, sie sollten wieder Sippen gründen und Heiratsbündnisse schließen, wieder so leben, wie es richtig war. Und als wir Ri-Wirrkon und Gilai, meine spätgeborene Tochter, miteinander aufwachsen sahen wie großer Bruder und Schwester, da setzten wir all unsere Träume und Hoffnungen in sie.
    Doch Ri-Wirrkon übt das Töten.
    Das schlimmste ist: Er hat allen Grund dazu. Er hat die Wahrheit gesprochen.
    »Mutter«, sagte Gilai und legte Haibe die Hand auf den Arm, »mach dir keine Sorgen! Ri-Wirrkon weiß, was er tut!«
    Haibe gab keine Antwort.
    Das Essen war fertig. Sie rief nach Ri-Wirrkon und Gilai, erhielt keine Antwort, ging auf den Dorfplatz hinaus, fragte die Kinder der Koa, die dort Fangen spielten.
    »Die sind nicht hier«, sagte einer der Jungen. »Die sind wieder zu dem Dorf von den anderen,
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