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Die Geschlechterluege

Die Geschlechterluege

Titel: Die Geschlechterluege
Autoren: Cordelia Fine
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ablesen. Im Jahr 2004 analysierte eine Forschergruppe an der McGill University fast 400 Geburtsanzeigen, die von frischgebackenen Eltern in zwei kanadischen Zeitungen veröffentlicht wurden, und untersuchte sie auf Wörter, die Glück oder Stolz zum Ausdruck brachten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Eltern von Jungen eher Stolz formulierten, während bei den Eltern von Mädchen eher von Glück die Rede war. Was mag der Grund dafür sein, dass Eltern in ihrer öffentlichen Reaktion auf die Geburt ihres Kindes bei einem Jungen andere Emotionenals bei einem Mädchen kundtun? Nach Ansicht der Autoren löst die Geburt eines Mädchens eher die warmen, verschwommenen Gefühle aus, die auf Verbundenheit zielen, während der Nachdruck auf Stolz bei einem neugeborenen Jungen auf die unbewusste Überzeugung zurückgeht, dass ein Junge die eigene gesellschaftliche Stellung aufwerten wird. 593
    Möglicherweise ist sogar die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern eine Geburtsanzeige für einen Jungen in der Zeitung veröffentlichen, etwas höher als bei einem neugeborenen Mädchen. Das entdeckten John Jost und sein Team. Bei 51 Prozent aller Lebendgeburten werden Jungen geboren, man sollte also erwarten, dass der Prozentsatz bei Geburtsanzeigen genauso hoch ist. Allerdings wurden bei einer Datenerhebung aus Tausenden von Geburtsanzeigen in Florida mehr Jungengeburten bekanntgegeben, nämlich 53 Prozent. Das ist zugegebenermaßen ein kleiner (wenn auch statistisch bedeutsamer) Unterschied. (Und er bezieht sich lediglich auf die traditionellen Familien, in denen die Mutter den Familiennamen des Vaters übernommen hatte.) Allerdings ist nach Meinung der Autoren »die Tatsache, dass es im Zusammenhang mit einer Familienentscheidung, die ein so klarer und bedeutsamer Ausdruck elterlichen Stolzes ist, überhaupt Genderunterschiede gibt, nicht nur überraschend, sondern besorgniserregend. Wir vermuten, die meisten Eltern wären schockiert und empört, würde man ihnen unterstellen, dass sie eher die Geburt eines Sohnes als einer Tochter öffentlich bekanntmachen würden, und das lässt den Schluss zu, dass es sich um einen subtilen, unausgesprochenen, aber trotzdem mächtigen Effekt handelt.« 594 Es ist noch gar nicht so lange her, dass in den Zivilisationen der westlichen Welt Männer ganz selbstverständlich mehr galten als Frauen (in vielen armen oder unterentwickelten Ländern ist das immer noch der Fall). Heute ziehen wirnicht mehr ein Geschlecht dem anderen vor – aber könnte es nicht sein, dass wir in einem verschwiegenen Winkel unseres Unbewussten Männer nach wie vor höher schätzen?
    Das belegt möglicherweise ein genauerer Blick auf die Namen der Babys. Jost und seine Kollegen analysierten Tausende von Geburtsanzeigen auch daraufhin, wie oft Söhne und Töchter einen Namen bekamen, der mit demselben Buchstaben anfing wie entweder der Name des Vaters oder der Mutter: so etwa, ob Russell und Karen ihren Sohn Rory oder Kevin nannten. Sie fragen sich jetzt sicher, was das denn nun über die Machenschaften des Unbewussten enthüllen soll. Nun: Bemerkenswerterweise haben nicht alle Buchstaben des Alphabets den gleichen Stellenwert. Generell hat für uns vielmehr der Buchstabe, mit dem unser eigener Name beginnt, eine besondere Bedeutung. Ausgehend von diesem Phänomen untersuchten Jost und sein Team die Anzeigen nach Belegen für »impliziten Paternalismus« in den Namen, die Eltern für ihre Kinder ausgesucht hatten. Es stellte sich heraus, dass Jungen eher Namen bekamen, die mit dem ersten Buchstaben des Vatersnamens begannen, bei Mädchen hingegen war die Verteilung der Initialen von Mutter oder Vater gleichmäßig. (Und das lag nicht daran, dass einige Söhne den Vornamen ihres Vaters erhielten; Kinder mit genau demselben Namen wurden in diese Analyse nicht mit einbezogen.) Mit anderen Worten: Die Eltern hatten offenbar unbewusst den Namen des Vaters höher bewertet, und wohl auch Jungen, die häufiger mit der höherwertigen männlichen Initiale bedacht wurden. 595
    Natürlich ist die Suche nach einem Namen für ein Kind ein sehr individuell geprägter und vielschichtiger Prozess. Es ist ausgeschlossen, sichere Behauptungen aufzustellen über das, was hinter diesen überraschenden Befunden steht. Allerdings weisen Jost und seine Kollegen darauf hin, dass Sexismus und Rassismus sich in unserer Gegenwart häufig »indirekt, subtilund (in einigen Fällen) unbewusst manifestieren«. 596 In modernen, hochentwickelten Gesellschaften sind
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