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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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drei Männer packten, die ich als Lakaien meines Vaters erkannte. Sie taten mir keinerlei Gewalt an; doch während zwei von ihnen mich an den Armen hielten, durchsuchte der dritte meine Taschen, aus denen er ein kleines Messer hervorzog, das die einzige Waffe war, die ich bei mir hatte. Sie baten um Verzeihung dafür, dass sie sich mir gegenüber so respektlos benehmen müssten; sie sagten mir natürlich, dass sie auf Anordnung meines Vaters handelten und dass mich mein älterer Bruder unten in einer Karosse erwarte.
    Ich war so verwirrt, dass ich mich ohne Gegenwehr und ohne zu antworten mitnehmen ließ. Mein Bruder wartete tatsächlich auf mich. Man schob mich neben ihn in die Karosse, und der Kutscher, der seine Anweisungen hatte, fuhr uns mit hoher Geschwindigkeit nach Saint-Denis. Mein Bruder umarmte mich innig, doch sprach er kein Wort mit mir, sodass ich alle nötige Muße hatte, um über mein Unglück nachzudenken.
    Dabei stieß ich zunächst auf so viel Undurchschaubares, dass auch die gewagtesten Mutmaßungen keine Aufklärung brachten. Ich war auf grausame Weise verraten worden. Doch von wem? Als Erstes kam mir Tiberge in den Sinn. «Verräter!», sagte ich. «Wenn meine Vermutungen zutreffen, ist es um dein Leben geschehen.»
    Gleichwohl überlegte ich mir, dass ihm mein Aufenthaltsort unbekannt war und man diesen folglich nicht von ihm erfahren haben konnte. Und Manon zu verdächtigen – diese Schuld auf mich zu nehmen, brachte ich nicht übers Herz. Jene ungewöhnliche Traurigkeit, die ich an ihr wahrgenommen hatte, ihre Tränen, der zarte Kuss, den sie mir gegeben hatte, als sie sich zurückzog, all das war mir wohl rätselhaft erschienen; doch neigte ich dazu, es als Vorahnung unseres gemeinsamen Unglücks zu deuten, und während ich verzweifelte angesichts des Missgeschicks, das mich von ihr fortriss, war ich noch so leichtgläubig, mir einzubilden, dass sie weitaus mehr zu beklagen war als ich. Am Ende meiner Grübeleien gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich in den Straßen von Paris von irgendwelchen Bekannten gesehen worden war, die meinen Vater benachrichtigt hatten. Dieser Gedanke tröstete mich. Ich würde wohl mit Vorhaltungen oder gewissen Ahndungen davonkommen, die ich seitens der väterlichen Autorität zu gewärtigen hatte. Ich war entschlossen, sie geduldig über mich ergehen zu lassen und alles zu versprechen, was man von mir verlangte, um mir nur schneller Gelegenheit zu verschaffen, nach Paris zurückzukehren und meiner teuren Manon wieder Leben und Freude zu schenken.
    Kurze Zeit später erreichten wir Saint-Denis. Mein Bruder, der von meiner Schweigsamkeit überrascht war, meinte wohl, sie sei eine Folge meiner Furcht. Er gab sich Mühe, mich zu trösten, und versicherte mir, ich hätte nichts von der Strenge meines Vaters zu fürchten, vorausgesetzt, dass ich willens sei, wieder folgsam meiner Pflicht nachzukommen und mich der Zuneigung würdig zu erweisen, die er für mich hege. Für die Übernachtung hatte er Saint-Denis ausersehen, und es wurde die Vorsichtsmaßnahme getroffen, die drei Lakaien mit mir in einem Zimmer schlafen zu lassen. Es schmerzte mich sehr zu sehen, dass ich mich in derselben Herberge befand, in der ich mit Manon abgestiegen war, als ich von Amiens nach Paris unterwegs war. Der Wirt und die Bediensteten erkannten mich wieder und erahnten sogleich, wie es um meine Geschichte bestellt war. Ich hörte, wie man zum Wirt sagte: «Ah, das ist der hübsche Monsieur, der vor sechs Wochen hier abgestiegen ist, mit einer jungen Frau, die er so sehr liebte. Und wie bezaubernd sie war! Die armen Kinder, wie haben sie einander liebkost! Was für ein Jammer, dass man sie getrennt hat!»
    Ich tat so, als hörte ich nichts, und ich ließ mich so wenig wie möglich sehen. Mein Bruder hatte in Saint-Denis eine zweisitzige Kutsche bereitstellen lassen, mit der wir in aller Frühe weiterfuhren, und wir gelangten am Abend des folgenden Tages bei uns zu Hause an. Er suchte meinen Vater vor mir auf, um ihn günstig zu stimmen, und berichtete ihm, mit welcher Folgsamkeit ich mich hätte herbringen lassen, sodass dieser mich weniger schroff behandelte als ich erwartet hatte. Er begnügte sich mit einigen allgemeinen Vorhaltungen hinsichtlich der Verfehlung, die ich begangen hätte, da ich ohne seine Erlaubnis auf und davon gegangen sei. Was meine Geliebte anging, so sagte er, wenn man sich einer Unbekannten hingebe, verdiene man durchaus, was mir widerfahren sei; er habe mich
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