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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
Autoren: Manesse-Verlag
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nicht länger die Kraft, eine Rede zu ertragen, von der mich jedes Wort ins Herz getroffen hatte. Ich erhob mich von der Tafel, und ich hatte noch keine vier Schritte getan, um den Saal zu verlassen, als ich wie entseelt und bewusstlos zu Boden stürzte. Man eilte mir zu Hilfe und brachte mich rasch wieder zur Besinnung. Ich öffnete die Augen, nur um einen wahren Tränenstrom zu vergießen, und den Mund, nur um in die allertraurigsten und anrührendsten Wehlaute auszubrechen. Mein Vater, der mich immer innig geliebt hat, wandte seine ganze Zuneigung darauf, mich zu trösten. Ich hörte ihn zwar sprechen, verstand jedoch kein Wort. Ich warf mich ihm zu Füßen, ich beschwor ihn händeringend, mich nach Paris zurückkehren zu lassen, um B… zu erdolchen.
    «Nein», rief ich, «er hat das Herz Manons nicht gewonnen, er hat sie genötigt; er hat sie mit Zauber oder mit Gift verführt; vielleicht hat er sie mit Gewalt gefügig gemacht. Manon liebt mich. Weiß ich das nicht am besten? Er muss sie mit dem Dolch in der Hand bedroht und dazu gezwungen haben, mich zu verlassen. Was hätte er nicht getan, um mir eine so bezaubernde Geliebte zu entreißen! O Götter! Götter! Wäre es möglich, dass Manon mich verraten hätte und dass sie aufgehört hätte, mich zu lieben?»
    Da ich immer noch die Absicht äußerte, sofort nach Paris zurückzukehren, und mich zu diesem Zweck immer wieder erhob, musste mein Vater wohl einsehen, dass ich mich in einem solchen Zustand der Leidenschaft unter keinen Umständen davon würde abbringen lassen. Er brachte mich in eine Kammer unter dem Dach und ließ zwei Bedienstete zu meiner Bewachung zurück. Ich war ganz und gar von Sinnen. Tausendfach hätte ich mein Leben dafür gegeben, nur um eine Viertelstunde in Paris zu sein. Ich begriff, dass man mir, nachdem ich mich so offen erklärt hatte, kaum erlauben würde, meine Kammer zu verlassen. Ich besah mir, in welcher Höhe sich die Fenster befanden; als ich keine Möglichkeit sah, auf diesem Weg zu entkommen, richtete ich behutsam das Wort an meine beiden Bediensteten. Ich schwor tausend Eide, dass ich eines Tages ihr Glück machen würde, wenn sie meine Flucht zuließen. Ich bedrängte sie, ich schmeichelte ihnen, ich drohte ihnen; doch auch dieser Vorstoß führte zu nichts. Und so verlor ich alle Hoffnung. Ich beschloss zu sterben und warf mich auf das Bett in der Absicht, es nicht mehr lebend zu verlassen.
    Ich verbrachte die Nacht und den folgenden Tag in dieser Lage. Ich verweigerte die Speisen, die man mir am folgenden Tag brachte. Am Nachmittag kam mich mein Vater besuchen. Er hatte die gar wohlmeinende Absicht, meine Schmerzen mit den sanftesten Trostworten zu lindern. Er befahl mir so strikt, etwas zu essen, dass ich es aus Respekt vor seinen Anordnungen tat. Es vergingen einige Tage, während derer ich nur in seiner Anwesenheit und aus Folgsamkeit etwas zu mir nahm. Immer wieder trug er mir allerhand Erwägungen vor, die mich zur Vernunft bringen und in mir Verachtung für die untreue Manon wecken sollten. Gewiss ist, dass ich keinerlei Wertschätzung mehr für sie empfand; wie auch hätte ich das flatterhafteste und treuloseste aller Geschöpfe noch schätzen können? Doch ihr Bild, ihre bezaubernden Züge, die ich tief im Herzen trug, wollten nicht weichen. Ich wusste um meine schwindenden Kräfte. «Ich könnte sterben», sagte ich, «ja, ich sollte es sogar, nach all der Schande und dem Schmerz; doch stürbe ich auch tausendfachen Todes, ich könnte die undankbare Manon nicht vergessen.»
    Mein Vater war überrascht, mich immer noch so tief betroffen zu sehen. Er wusste, dass ich mich Ehrbegriffen verpflichtet fühlte, und da er deshalb keine Zweifel hatte, dass ihr Verrat in mir Verachtung für sie erweckt hatte, bildete er sich ein, dass meine Beharrlichkeit weniger dieser Liebschaft im Besonderen als vielmehr einem allgemeinen Hang zu den Frauen entsprang. Er war von dieser Vorstellung derart eingenommen, dass er, da er nur seiner wohlmeinenden Liebe zu mir Gehör schenkte, eines Tages mit einer Eröffnung zu mir kam.
    «Chevalier», sagte er, «ich hatte bislang die Absicht, dich das Malteserkreuz tragen zu lassen; doch ich sehe, dass deine Neigungen nicht in diese Richtung gehen. Du liebst die hübschen Frauen. Ich habe die Absicht, dir eine zu suchen, die dir gefällt. Erkläre mir frei heraus, was du davon hältst.»
    Ich antwortete ihm, dass ich zwischen den Frauen keinen Unterschied mehr machte und dass ich sie, nach
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