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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Norbert F. Pötzl
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ehrenwert. Und rein.
    Er konnte nicht ahnen, dass sein Text irgendwann als Morgenrot deutscher Geschichte aufscheinen würde: guter Germane gleich guter Deutscher, germanisches Blut gleich deutsches Blut, germanischer Boden gleich deutscher Boden. Blut und Boden, völkisches Denken, das letztlich in der tödlichen Obsession der Nazi-Tyrannei sein Ende fand. Deshalb ist die Varuskatastrophe auch eine deutsche Katastrophe. Adolf Hitler, der die Hauptverantwortung trug für die Ermordung von sechs Millionen Juden, hatte einen frühen Entwurf seines Pamphlets »Mein Kampf« entsprechend tituliert: »Die germanische Revolution«, und ihm, dem »Führer des Großgermanischen Reiches«, wie ihn dann sein SS -Chef Heinrich Himmler umgarnte, schwebte vor, die Reichshauptstadt Berlin zur Welthauptstadt eines »germanischen Staates der germanischen Nationen« zu machen, Name: Germania. Bald danach lag alles in Trümmern.
    Es ist nachgerade bizarr, dass die Sichtweise eines Römers die Germanen als geschichtliches Ereignis festschrieb – und damit viele Generationen später eine Manie auslöste, eine Ideologie begründete und einen Mythos: den Germanenmythos.
    Bis heute können Wissenschaftler schon die scheinbar am leichtesten zu beantwortende Frage nicht beantworten – woher denn eigentlich der Name stammt, der für alles die Ursache war. Mindestens 50 Theorien existieren, und ihre Begründungen füllen Bibliotheksregale akademischer Einrichtungen. Kommt die Begrifflichkeit »Germanen« aus dem Lateinischen – und ist sie ein Kürzel von »verum germen nobilitatis«? »Wahrer Kern der Vortrefflichkeit«, wie die wörtliche Übersetzung heißt? Oder steckt in ihr, wie manche Pennäler meinen, der Name »Ger«? Jene kurze Lanze germanischer Soldaten, bekannt aus Kreuzworträtseln? Stammt der Name etwa aus dem Keltischen? Oder aus dem Hebräischen, dem Illyrischen, dem Ligurischen? Es ist einfach: Niemand weiß es.
    Und zu dieser allgemeinen Wirrnis gehört, dass die Bezeichnung »Germanist« anfangs keinesfalls auf einen Spezialisten dieses Sujets deutete – ein Germanist war vielmehr der, der sich mit deutschem Recht beschäftigte, ein Romanist kümmerte sich um römisches Recht. Erst Jacob Grimm, einer der beiden Märchenbrüder, schlug 1846 vor, auch »Sprachforscher, Literaturhistoriker, Religions-, Wirtschafts- und Staatsforscher der germanischen Völker« so zu benennen.
    Bis weit ins Mittelalter hatte sich für diese Vorfahren kaum jemand interessiert, es dominierten andere Themen: Reichsgeschichte etwa und Kirchengeschichte. Da sei kein Platz gewesen für Erinnerungen oder gar die »Gedächtniskultur eines germanischen Sieges in augusteischer Zeit über Rom und eines Helden Arminius«, sagt der Althistoriker Rainer Wiegels. Dann kam das Jahr 1425, jenes Jahr, in dem der findige Manuskriptjäger Poggio Bracciolini nach Rom eine Sensation meldete – den Fund einer Abschrift des verschollenen Tacitus-Textes in einem deutschen Kloster. Ein Gesandter des Papstes brachte sie nach Italien, wo schließlich eine Abschrift dieser Abschrift im Städtchen Jesi nahe der Adriaküste deponiert wurde. Und von der lateinischen Ortsbezeichnung hat sie bis heute den Namen: Codex Aesinas.
    Rigorose Italiener, besser: Papstgetreue, schlachteten die »Germania« binnen kurzem, in schlechter Dialektik, an zwei Fronten aus. Einerseits lobten sie die von Tacitus beschriebenen militärischen Fähigkeiten der Germanen und deren Freiheitsliebe – um den deutschen Kaiser zum gemeinsamen Kampf gegen die Türken zu gewinnen; andererseits machten sie sich lustig über unkultivierte Typen aus den Wäldern Germaniens – um Geld zu sparen. Der deutsche Episkopat hatte nämlich laute Beschwerde geführt, die Kurie beute ihn finanziell aus, gebe ihn dem Elend preis und verurteile ihn auf diese Weise zur Machtlosigkeit. Rom hielt in der Schrift »De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae descriptio« dagegen, gerade Tacitus sei doch der Beweis dafür, dass aus dem Barbarentum der frühen Zeit eine wohlhabende Kulturnation entstanden sei – dank des Christentums. Ein Germane, stünde er jetzt auf von den Toten, sehe nun »blühende Städte, sanftmütige Menschen, heilige Handlungen des Gottesdienstes«. Also sei Deutschland in der Dankesschuld dem Papst gegenüber, »darum seid fein bescheiden«.
    Die Römer nahmen die Ergüsse ihres Vorfahren Tacitus ganz offensichtlich nicht für bare Münze, anders als die deutschen Humanisten. Zudem ärgerte
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