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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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000 Kinder durch Gewalt und Missbrauch ums Leben. Schläge, körperliche und seelische Vernachlässigung sowie Misshandlungen von Kindern sind laut Unicef in allen Ländern der Erde, über alle kulturellen, sozialen, ethnischen und bildungsmäßigen Unterschiede hinweg verbreitet. Obwohl Gewalt die gesamte Entwicklung von Kindern nachhaltig beeinträchtigt und ihre Menschenrechte verletzt, wird sie, so Unicef, bis heute vielfach sozial akzeptiert und ist in vielen Ländern nach wie vor teilweise legal. Nur 16 Länder haben demnach das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert, darunter seit Anfang des Jahres 2000 auch Deutschland.
    Der Vater eines Spitzenkochs teilte satt aus
    Doch noch immer ergeht es auch in Deutschland Kindern so, wie dies Spitzenkoch Tim Raue, 36 Jahre alt, am 15. August 2010 in »Bild am Sonntag« schilderte. Unter der Überschrift: »Meine erste Erinnerung ans Kochen sind die Kochlöffel, mit denen mein Vater mich geprügelt hat« plauderte der mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Raue aus Anlass seiner neuen SAT.1-Show »Deutschlands Meisterkoch« darüber, wie ihn seine Stiefmutter mit Kleiderbügeln schlug. Wie aber auch sein Vater anfing, »satt auszuteilen. Ich gebe zu, ich war ein schwieriger Junge. Ich hab viel Mist gemacht. […] Mein Vater wusste sich in Konflikten nicht mehr anders zu artikulieren als zuzuschlagen […] Mit Ohrfeigen hatte das nicht mehr viel zu tun. Einmal hat er so heftig auf mich eingeprügelt, dass ich bewusstlos auf dem Teppich lag.« Als Jugendlicher schloss Raue sich in Berlin-Kreuzberg einer Gang an. »Wenn es irgendwo Stress gab, stand ich ganz vorne dabei. Ich hatte auf einmal eine Ersatzfamilie. Meine schiefe Nase rührt aus der Zeit und auch die eine oder andere gebrochene Rippe. Aber der Schmerz eines Rippenbruchs ist nicht annähernd so schlimm, als wenn einen der eigene Vater verprügelt […] Ich habe mich mit gutem Essen gestreichelt, weil das sonst nie jemand getan hat.« 47
    Der Trend geht weg vom Knüppel hin zum Gespräch
    Trotz derartiger Beispiele sieht der Kriminologe Christian Pfeiffer eine positive Entwicklung: »Unmittelbar nach dem Krieg war scheinbar alles erlaubt. Es gab keine Verbote für Lehrer und Eltern, die Kinder zu züchtigen. Es dauerte dann einige Zeit, bis der Bundestag im Jahr 2000 das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft hat. Ferner hat er das Gewaltschutzgesetz zwei Jahre später in Kraft gesetzt. Mit der Folge, dass seitdem die Polizei das Rechthat, einen massiv prügelnden Menschen aus der Familie, aus der Wohnung zu verweisen. Parallel dazu haben die Frauenhäuser ihr segensreiches Wirken begonnen und sehr viele Frauen und ihre Kinder vor der innerfamiliären Gewalt schützen können. Heute haben wir die erfreuliche Situation, dass in allen sozialen Schichten, bei Deutschen genauso wie bei Migrantenfamilien, die innerfamiliäre Gewalt abnimmt. Bei den Migranten haben wir allerdings immer noch eine importierte Machokultur, die sich erst im Laufe einer Generation schrittweise verändern wird.«
    Zahlen bestätigen dies. So ergab eine Befragung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, dass bei deutschen Eltern die Rate an regelrechten Kindesmisshandlungen inzwischen bei konstant unter 10 % liegt, bei türkischen Familien wird ein Wert von 18 % angegeben, bei Migrantenfamilien aus der früheren Sowjetunion 12 % und Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien 15 %. Noch vor zwölf Jahren beobachteten Pfeiffer und sein Team vom Kriminologischen Institut Niedersachsen, »dass gut ein Drittel der von uns befragten türkischen 15-Jährigen uns berichteten, sie hätten gesehen, dass der Vater die Mutter prügelt oder gelegentlich auch mal umgekehrt die Mutter den Vater und auch sie selber seien ganz massiv misshandelt worden. Das hat sich deutlich reduziert. Also es setzt sich auch dort schrittweise eine gewaltfreie Erziehung durch und ein gewaltfreier Umgang in den Familien.« 48
    Du musst ein Mann sein – Relikte aus alter Zeit
    Als ich für mein in der Spielzeit 2010/2011 in den Kammerspielen Bad Godesberg aufgeführtes Theaterstück »Zwei Welten« 49 einen in Bonn lebenden syrischen Kurden interviewte, beschrieb der mir seine familiäre Gewalterfahrung folgendermaßen:
     
    Ich sag nicht, Deutsche sind schwach, aber die trauen sich nicht wie Ausländer draufzuschlagen. Weil die sind andersaufgewachsen. Die werden nicht von ihren Eltern geschlagen. Und ausländische, wie man hört, ja. Wenn ich wo runter
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