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Die Geliebte des Malers

Die Geliebte des Malers

Titel: Die Geliebte des Malers
Autoren: Nora Roberts
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Tageslicht nicht weniger beeindruckend aus als im dichten Nebel. Und genau wie gestern im dichten Nebel fasste er auch heute nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf.
    »Mr. Sullivan …«, setzte Cassidy leicht atemlos an.
    »Schsch!« Er bog ihren Kopf nach links, kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Ich wusste es. Bei dem richtigen Licht ist es noch besser. Hier, kommen Sie her und setzen Sie sich. Ich will ein paar anständige Skizzen machen.«
    »Mr. Sullivan«, versuchte sie es noch einmal, während er sie weiter in den riesigen hohen Raum hineinzog, in dem überall Staffeleien, mit Leinwand bespannte Rahmen, Pinsel, Farben und andere Materialien verstreut lagen und standen. »Ich würde erst gern ein wenig mehr über diese ganze Sache erfahren, bevor ich eine feste Zusage mache.«
    »Setzen Sie sich.« Recht unsanft drückte er sie auf einen Schemel. »Und sitzen Sie gerade!«, ordnete er noch an, während er sich schon umdrehte.
    »Mr. Sullivan! Würden Sie mir bitte endlich zuhören!«
    »Sicher, gleich«, murmelte er und nahm Bleistift und Skizzenblock auf. »Aber jetzt seien Sie erst mal still.«
    Mit einem entnervten Seufzer fügte Cassidy sich. Vielleicht war es besser, wenn er diese Skizzen erst einmal aus seinem Kopf herausbekam. Also hielt sie still und ließ ihren Blick durch den Raum wandern.
    Es war ein großer, hoher Raum mit Fenstern vom Boden bis zur Decke und einem Oberlicht, das Cassidy ausnehmend gut gefiel. Bei den Ausmaßen musste sie unwillkürlich an eine Scheune denken. Die Glasfront ließ das Tageslicht einfallen, der Holzboden war über und über mit Farbklecksen bedeckt, die Wände in einem neutralen Cremeton gehalten. Ungerahmte Bilder lehnten an jeder möglichen Stützfläche, die Gemälde nach innen gekehrt. Auf einem langen Holztisch lagen Pinsel, Farbtuben und Lappen, Flaschen mit Terpentin und anderen Lösungsmitteln standen daneben. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte Cassidy eine einsame Couch, die wirkte, als wäre sie in letzter Minute noch ins Zimmer gebracht worden, ohne wirkliche Verwendung zu finden. Drei schlichte Holzstühle waren im Zimmer verteilt, so als hätte eine achtlose Hand sie beiseitegeschoben und dort stehen lassen, wo immer sie gerade gelandet waren. Es gab noch zwei weitere Schemel im Raum, zwei Türen waren zu sehen, und eine helle Halogenstehlampe mit einem geschwungenen Leuchtarm stand in einer Ecke.
    »Sehen Sie zum Fenster hinaus«, ordnete Colin abrupt an. »Ich will Sie im Profil haben.«
    Cassidy gehorchte wortlos. Der leichte Ärger, der sich in ihr breitzumachen begann, verpuffte sofort, kaum dass sie draußen vor dem Fenster einen Spatz sein Nest in einer mächtigen Eiche bauen sah. Der kleine Vogel ging ganz in seiner Aufgabe auf, trug immer wieder Grashalme, kleine Zweige und Federn in seinem Schnabel heran. Mit Geschick, Geduld und Hingabe verarbeitete er das herbeigeflogene Baumaterial, um dann wieder loszufliegen und weiterzusuchen. Und jedes Mal, wenn er wieder in die Luft aufstieg, fiel die Sonne auf seine braunen Flügel. Fasziniert sah Cassidy ihm zu. Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen und ließ ihre Augen warm erstrahlen.
    »Was sehen Sie da?« Colin war neben sie getreten, und Cassidy war so in ihre Beobachtung vertieft, dass sie nicht einmal zusammenzuckte, auch drehte sie sich nicht zu ihm um.
    »Der kleine Vogel dort.« Sie zeigte mit dem Finger, als der Spatz wieder zum Start ansetzte. »Sehen Sie nur, wie entschlossen er sich seiner Aufgabe widmet, um das Nest fertig zu bauen. Dabei besteht es nur aus Grashalmen und Zweigen und den anderen wertvollen Schätzen, die so ein Spatz findet. Wir Menschen brauchen Ziegelsteine und Beton und Fertigteile, aber dieser kleine Vogel baut sein Heim praktisch aus nichts, ohne Hände, ohne Werkzeuge und auch ohne Gewerkschaftsvertreter. Wunderbar, meinen Sie nicht auch?« Cassidy drehte lächelnd den Kopf. Er stand näher, als sie gedacht hatte. Sein Gesicht war auf gleicher Höhe mit ihrem, um ihrem Blick folgen zu können. Ihre Blicke trafen jetzt aufeinander und hielten einander fest, und Cassidy verspürte jäh ein seltsames Gefühl, so als wäre sie zu schnell aufgestanden und müsste erst ihr Gleichgewicht wiederfinden. Ihr inneres Gleichgewicht.
    »Sie sind vielleicht noch perfekter, als ich anfangs vermutete«, sagte Colin und strich ihr mit einer Hand das Haar über die Schulter.
    »Mr. Sullivan …« Cassidy erinnerte sich wieder an ihren Entschluss,
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