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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere
Autoren: Daniel Zahno
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Zerbrechliches. Ich saß auf meinem Bett, vertilgte meine Stracciatella und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Ich bewunderte, wie sie sich so ganz dem Eis hingab. Als sie die Waffel zu Ende gegessen hatte, leckte sie sich die Finger ab und wischte sich dann mit einer kleinen Papierserviette Hände und Mund ab. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und strahlte mich an.
    Bei uns zu Hause gab es nicht oft Eis. Mein Vater mochte die neuen Aromen, die immer mehr aufkamen, nicht. Und er meinte, dass zu viel Eis Durchfall verursache. Deshalb hatte ich gejubelt, als Noemi mit den großen Waffeln gekommen war.
    Draußen wurde es finster. Dicke Wolken zogen vorüber, der Scirocco heulte durch die Gassen, und ich stellte mir vor, wie die Schiffe und Boote in der Lagune von den schäumenden Wellen hin- und hergeworfen wurden. Aber in meinem Zimmer am Rio della Misericordia war es warm, und eine kleine Lampe sorgte für einen matten Schimmer. Noemi und ich redeten nicht viel, wie meist, wenn wir zusammen waren. Aus dem Radio kam das Lied »Volare«, und tatsächlich war mir zum Fliegen zumute. Das Vanilleeis und Noemis Lächeln hatten mich in Hochstimmung versetzt.
    Noemi trug einen blauen Rollkragenpullover. Ihr halblanges blondes Haar hatte sie hochgesteckt, so dass sie ganz anders aussah als sonst. Ein Bein hatte sie über das andere geschlagen. Ihr Blick verlor sich auf den Schiffen meines Lego-Hafens, während »Volare« nicht aufhören wollte, durch mein Zimmer zu fliegen.
    »Meinst du, es stimmt, was man sagt – dass Leute, die kein Eis mögen, Dummköpfe sind?«, fragte sie.
    Ich zuckte zusammen. Wenn das stimmte, dann war mein Vater ein Dummkopf. Das konnte ich nicht durchgehen lassen.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wo hast du denn das her?«
    »Mein Onkel hat mir das mal gesagt. Menschen, die kein Eis mögen, seien Dummköpfe oder Barbaren.«
    Ich schluckte. Natürlich hatte ihr Onkel recht, aber trotzdem hätte er den Mund halten sollen. Mein Vater ein Barbar, diese Vorstellung war nicht zum Aushalten.
    »Hmm …«, machte ich.
    »Kennst du Leute, die kein Eis mögen?«
    »Kann schon sein«, sagte ich ausweichend. Ich steckte in der Klemme und suchte nach einem Ausweg. Aber es wollte mir nichts einfallen, und kaum wollte ich etwas sagen, gerieten mir die Dinge in meinem Kopf heillos durcheinander.
    »Beißer sind Barbaren«, sagte ich schließlich, froh, dass mir doch noch ein halbwegs intelligenter Gedanke gekommen war.
    »Beißer?«
    »Ja, Leute, die nicht langsam am Gelato lutschen, sondern gleich ins Eis beißen und es gierig herunterschlucken. Wie Lucio etwa. Lucio ist ein Barbar, man sieht es daran, wie er sein Eis isst.«
    Das schien ihr einzuleuchten.
    »Ja, du hast recht. Lucio ist ein Barbar. Nicht nur beim Eisessen.«
    Scherzend fügte ich an: »Er ist ja auch ein Mehrfachkind.«
    Wir lachten. Man hatte uns beiden so oft zugesetzt, nur weil wir Einzelkinder waren, dass uns eine solche Spitze wohltat.
    »Volare« verklang, und ich spürte den Schmerz in meinem Hals wieder.
    »Könntest du dir vorstellen, eine Schwester oder einen Bruder zu haben?«, fragte Noemi nach einer kurzen Pause.
    Ich wusste nicht, ob ich mir das vorstellen konnte. Ich musste mir das erst durch den Kopf gehen lassen. Ich hatte keine Schwester und keinen Bruder, und so wusste ich nicht wirklich, was es hieß, Geschwister zu haben. Deshalb war es mir unmöglich, etwas dazu zu sagen – ja, es war mir unmöglich, irgendetwas dazu zu denken.
    »Eigentlich komme ich mit mir alleine ganz gut zurecht«, sagte ich.
    »Du meinst, du brauchst niemanden zum Streiten.«
    »Genau.«
    Sie schaute mich ruhig an und zupfte ihren Rock zurecht.
    »Manche Leute denken, Einzelkinder lernten nicht zu teilen und seien rücksichtslos.«
    »Nur Barbaren denken so«, sagte ich, »und Beißer.«
    Wir lachten. Ihr Lachen hüllte mich auf wunderbare Weise ein. Es war entwaffnend.
    »Hätte deine Mutter nicht gerne noch ein weiteres Kind gehabt?«, fragte sie schließlich.
    »Kann schon sein«, sagte ich. »Aber vielleicht wollte sie auch nur ein Kind, um mir ihr eigenes Schicksal zu ersparen – meine Mutter hat zwölf Geschwister.«
    »Zwölf Geschwister!«
    »Bei so vielen Kindern ist sie gewiss zu kurz gekommen. Sie spricht nicht gern von ihrer Kindheit, und wenn, dann nicht besonders positiv.«
    Noemi nickte. Gedankenversunken starrte sie auf meinen Lego-Hafen, ihr Blick verlor sich auf den bunten Schiffen und dem nachgebauten Arsenale. Dann
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