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Die gelehrige Schuelerin

Die gelehrige Schuelerin

Titel: Die gelehrige Schuelerin
Autoren: Ira Miller
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kommen sehen.«
    »Ich hab gar nicht bemerkt, dass sie losging.«
    Er gab mir seine Adresse, und wir verabschiedeten uns. Seine letzte Bemerkung überraschte mich. »Geben Sie gut auf diese Hand da Acht, hä!« Vermutlich hatte er für jeden Kerl Respekt, der ihn aufs Kreuz legen konnte.
    Aber Annie hielt mich für einen Schwächling.
    Annie!
    Ich konnte diese ganze verdammte Hölle, durch die wir uns gejagt hatten, nicht vergessen.
    Ich musste es aber vergessen.
    Ich nahm noch eine Tablette.
    Ich schlief im Bademantel ein.
    Das Telefon weckte mich mit schrillem Gekreisch, das wie dröhnende Pauken gegen mein Trommelfell schlug.
    »Mr. Lester? Hier ist Mrs. Williams, die Sekretärin der Schule. Es ist fast acht Uhr, und wir haben uns gefragt, wo Sie bleiben.«
    »Krank«, stieß ich hervor und musste husten. »Tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe.« In meinem Kopf explodierte ein Schuss, und gleich darauf begann ein Schrottautorennen. Knall, puff, suuum, päng. »Hab verschlafen. Nehme ein paar Tage frei. Lasse mich krankschreiben. Rufe an, wann ich wieder kommen kann. Entschuldigung.«
    Alles war nur noch ein Meer von Schmerz, in dem ich ertrank.
    Vielleicht. Vielleicht damals, als ich noch ein Kind war und der Nachbarjunge mich »Judenschwein« genannt hatte, was mich zutiefst verletzte, obwohl ich noch nicht einmal wusste, was das bedeutete, oder wenn meine Mutter mich für etwas, das ich nicht getan hatte, zur Strafe ins Zimmer einsperrte und mir meine Geburtstagsgeschenke wieder wegnahm, oder als ich daneben stand und zusah, wie mein Lieblingshund von den walzenden Rädern eines Lastwagens zermalmt worden war, vielleicht damals …
    Vielleicht, als ich noch zu klein war und nicht die intellektuelle Fähigkeit besaß, Beleidigungen von Erwachsenen einfach nur als Worte hinzunehmen, als ich noch nicht die Selbstsicherheit besaß zu akzeptieren, dass auch andere, vor allem Erwachsene, Fehler machen konnten, als ich noch nicht rationalisieren konnte, um mich vor seelischen Verletzungen zu schützen, vielleicht … Vielleicht habe ich da schon mal solche Qualen durchgestanden.
    Oder vielleicht jetzt, da ich alle Schutzwände eingerissen hatte, die ich während meiner Schul-, College- und Ausbildungszeit aufgebaut hatte, als ich den Schleier der Drogen von mir gerissen, als ich mich völlig verletzlich gemacht und jemanden so total geliebt hatte, dass nur jetzt nur wieder die Einsicht blieb, ich bin ein Mann ohne Frau, ein Mann, der sich nicht mal dazu aufraffen konnte, um zur Arbeit zu gehen, vielleicht jetzt …Vielleicht waren die Qualen jetzt noch viel größer.
    Ich hatte keinen Grund aufzustehen, mich anzuziehen, zur Arbeit zu gehen, irgendwo hinzugehen, repräsentativ auszusehen, irgendjemand zu sein, irgendwo hinzugehören, mich anzupassen. Niemand kümmerte sich um mich. Ich hatte den Menschen verloren, den ich liebte. Jetzt war das Leben völlig einfach. Ich konnte mich total gehen lassen. Ich ließ jede Art von Selbstachtung Stundenplänen, Disziplin fallen. Ich brauchte keinen Stolz mehr. Ich hatte nicht den Wunsch, mich vorwärts zu bewegen, nicht den Ehrgeiz, in irgendetwas gut zu sein. Warum arbeiten? Warum mich mitteilen? Ich war ja sowieso hässlich. Ich hatte eine wundervolle Person geliebt und dann alles ins Hässliche verkehrt, indem ich meine niedrigsten Instinkte überhand nehmen ließ. Und zum Schluss war ich so gemein und unfair geworden, dass ich Annie womöglich irreparablen Schaden zugefügt hatte. Dem wollte ich mich nicht stellen. Für mich gab es keinen Grund mehr zu existieren.
    Ich hatte größte Lust, mich mit den Tabletten ständig im Zustand des Vakuums zu belassen. Aber ich konnte mich nicht mehr dazu bringen, noch eine einzige von den grässlichen Dingern zu schlucken. Ich wollte richtige Drogen, aber ich kannte die Verbindungen hier nicht.
    Annie war mein einziger Kontakt in Oregon gewesen. In den ersten Monaten hier war ich unsicher und deprimiert gewesen. Aber jetzt war es noch wesentlich schlimmer, weil ich jemanden verloren hatte, der mich da rausziehen konnte. Und in der ganzen Familie, im ehemaligen Freundeskreis gab es niemanden, den ich hätte anrufen, der mich hätte trösten können. Niemand würde mich verstehen. Die Telefongespräche würden in etwa so lauten: »Wie geht’s dir?«–»Gut.«–»Gibt’s was Neues?«–»Nein.«–»Wie gefällt’s dir im Nordwesten?«–»Ziemlich gut.« Alles oberflächliches Zeug. Ich hatte meine Familie verlassen, um ein
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