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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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Drei Wochen hatte das Projekt »Geschichten schreiben« gedauert und zum Abschluss sollte jeder Schüler eine eigene Idee zu Papier bringen. Dazu hatte Frau Gordon rote, grüne und blaue Zettel an die Klasse verteilt. Auf jeden roten Zettel ließ sie die Schüler eine beliebige Zeitepoche schreiben, auf jeden grünen den Namen einer Person und auf jeden blauen einen Ort. Bei Wanja hatte sich dadurch die Kombination Mittelalter/Flora/Italien ergeben und zu diesen Schlüsselbegriffen war ihr eine Rittergeschichte eingefallen.
    Schon als kleines Kind hatte Wanja von allen Geschichten am meisten die geliebt, in denen es spannend zuging. Jo hatte ihr Märchen vorgelesen und Flora hatte ihr Sagen und Legenden erzählt, wieder und wieder, bis Wanja endlich alt genug war selbst ein Buch in die Hand zu nehmen. Sobald sie schreiben konnte, hatte Wanja angefangen ihre eigenen kleinen Geschichten zu verfassen, die Jo in einem großen Karton sammelte.
    An der Rittergeschichte hatte Wanja zwei Wochen lang jeden Nachmittag gesessen. Ihre Heldin Flora war eine arme Bauerstochter von unbeschreiblicher Schönheit, großem Mut und außergewöhnlicher Klugheit. Jeder Mann, der sie sah, verliebte sich in sie, auch der jüngste Sohn des mächtigen Ritters Rostauge. Flora erwiderte die Liebe des jungen Ritters, aber dessen Vater war dagegen und wollte Flora als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Der junge Ritter half Flora zu entkommen und gab ihr für die Flucht seine Rüstung und das schnellste Pferd aus dem Stall. Die Flucht gelang und die mutige Flora wurde als »unbekannter Ritter« im ganzen Land berühmt, weil sie jede Schlacht gewann, ohne dass jemand ihr wahres Angesicht zu sehen bekam. In einer besonders blutigen Schlacht rettete die getarnte Flora das Leben von Ritter Rostauge, und als die Schlacht gewonnen war, ließ sie der mächtige Ritter auf seine Burg rufen. Als Belohnung für seine Heldentat dürfe sich der Fremde aussuchen, was er wolle, sagte Ritter Rostauge. Da nahm der Fremde seine Rüstung ab: Flora schüttelte ihre langen roten Locken und forderte den jüngsten Sohn von Ritter Rostauge zum Mann. Ritter Rostauge wollte ihr vor Wut an die Kehle gehen, doch sein gesamtes Gefolge hatte sein Versprechen gehört. So musste Ritter Rostauge seine Einwilligung zur Hochzeit geben. Das Liebespaar bekam viele Kinder und lebte glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende.
    Als Wanja die Geschichte in der letzten Woche fertig geschrieben hatte, rief sie Flora an und las ihr das Werk am Telefon vor. Jo hörte begeistert mit und Flora sagte, wer solche Texte schreibe, dürfe in Mathe eine Niete sein.
    Dieser Meinung war heute offensichtlich auch Frau Gordon, die am Ende der Lesung beide Daumen in die Höhe hob. »Ganz große Klasse, Wanja.«
    »Das Schreibtalent hast du wohl von deiner Mom geerbt, was?«, sagte Sue, als Wanja mit ihr, Tina und Britta in die Pause ging. Sue war Amerikanerin, weshalb für sie alle Mütter Moms und alle Väter Dads waren. Sues Dad, der aussah, als hätte man ihn aus einem amerikanischen Wildwestfilm herausgeschnitten und ihn lediglich in andere Klamotten gesteckt, war vor neun Jahren mit seiner Familie nach Deutschland versetzt worden. Er arbeitete im Exportgeschäft, aber auf Wanjas Schule war er berühmt für seinen Hamburgerstand, mit dem er sich an jedem Sommerfest beteiligte. Darauf war Sue fast so stolz wie auf ihre große Schwester Marcy, die vor vier Jahren zurück nach Amerika gegangen war, um in Los Angeles eine Ausbildung als Maskenbildnerin zu machen.
»Ach übrigens«, sagte Sue und holte ihre wasserstoffblond gefärbten Haare unter dem Kragen ihrer Jeansjacke hervor. »Wenn deine Mom mal einen Werbefilm in Amerika drehen sollte, sag mir Bescheid. Dann kann sie meine Schwester buchen. Die kennt die besten Models, sag ich dir.«
    Wanja tippte sich an die Stirn. »Jo dreht keine Werbefilme in Amerika. Die arbeitet in einer Miniagentur, die machen höchstens mal einen Radiospot.«
    Sue sah Wanja mitleidig an. »Aber der deutsche Langnesefilm ist in Amerika gedreht worden, und zwar genau an dem Strand, wo meine Schwester wohnt.«
    »In Santa Monica Beach«, ergänzte Tina mit wissender Miene. Sue hatte diese Tatsache inzwischen mindestens hundert Mal erwähnt, aber Tina, die an Sue hing wie eine Klette, wurde nicht müde davon zu hören. »In dem Film war doch dieser blonde Surfer, der deine Schwester nach dem Dreh ins Kino eingeladen hat«, bemerkte sie aufgeregt, während
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