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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa
Autoren: Antonia Michaelis
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am Bug und Weiß am Heck. Er hatte ungesehen losfahren wollen, aber er hatte keine Lust, draußen in der Nacht mit irgendeinem anderen Schiff zusammenzustoßen.
    Er war kein Dummkopf. Er war José Julio Fernandez. Ein Mann. Kein Kind.
    Er sah zu den Sternbildern empor, die über ihm glitzerten wie merkwürdig geformte Perlenketten, und prägte sich den Kurs ein, den er fahren musste. Es war nicht schwer. Er war oft nachts mit den Fischern von Isabela hinausgefahren, und er war schon als Kind immer wieder von der Farm entwischt, um den weiten Weg zur Küste zu laufen, wo die Segler anlegten. Silvio hatte ihn am häufigsten mitgenommen. José und der Pazifik waren alte Bekannte.
    Eine Weile stand er ganz still am Heck der Mariposa und versuchte die Nacht in sich aufzunehmen: die erste Nacht auf dem Meer, die ihm allein gehörte.
    In der Ferne tauchten die Lichter eines anderen Schiffs auf, eines großen Schiffs, und im Mondlicht erkannte er es: Es war die Isabelita, deren Heimatinsel auch Josés Insel war. Isabela. Er hob die Hand zu einem stummen Gruß. Er war froh, dass er die Positionslichter gesetzt hatte. Sie würden sich natürlich fragen, was für ein Schiff das war, das ihnen um diese Zeit entgegenkam.
    »Das Schiff eines Toten«, flüsterte José. Die Worte zitterten in der Nacht.
    Es waren die verkehrten Worte, sie riefen die Angst aus den dunklen Tiefen der See herauf, wo sie lauerte – zusammen mit den unbekannten Geschöpfen, deren Namen unaussprechlich und undenkbar waren. Die Abuelita hatte nur wispernd von ihnen erzählt, riesig sollten sie sein und schrecklich, voller Tentakel, voll spitzzähniger Mäuler und tödlicher Stachel …
    »Nein. Es ist nicht das Schiff eines Toten«, sagte José laut. »Es ist jetzt mein Schiff.«
    Das waren bessere Worte. Die Angst tauchte zurück ins Wasser und nahm die undenkbaren Geschöpfe mit. Aber eines der Meeresungeheuer schien seinem Willen entkommen zu sein. Etwas regte sich vor ihm im Wasser, zur Linken, backbord voraus. José hörte ein Plätschern, und dann sah er im Mondlicht etwas um sich schlagen.
    Die Abuelita kicherte zufrieden in seinen Gedanken. Siehst du, mein Junge, sagte ihre alte Stimme, brüchig von unzählbaren Jahren Arbeit auf der Farm, es gibt sie doch, die Unaussprechlichen. Ich habe es euch immer gesagt: Lasst eure Finger von den Tauen und Steuerrädern der Schiffe! Ihr wolltet ja nicht hören. Aber du, José, du treibst es toller als alle anderen. Allein hinauszufahren, in der Nacht, auf einem Totenschiff … Du hast sie gerufen, die Unaussprechlichen, und einer von ihnen ist heraufgekommen.
    »Sei still, Abuelita«, flüsterte José. »Du hast keine Ahnung, und du bist alt und außerdem gar nicht da! Es ist nur ein Seelöwe.«
    Ah ja?, höhnte die Abuelita. Ein Seelöwe mit langen Armen und Beinen, die durch die Nacht schnellen wie die Wedel einer Palme?
    Sie hatte recht. Es war kein Seelöwe. José hörte das Keuchen des Unaussprechlichen in der Nacht. Er wollte das Steuerruder herumreißen und fliehen, doch seine Hände waren starr vor Angst und gehorchten ihm nicht. Der Wind drehte kaum merklich, die Mariposa gierte nach Lee und drehte ihren Bug ohne sein Zutun ein wenig nach backbord, und jetzt hielt sie genau auf das zu, was kein Seelöwe war. Er sah es untergehen, wieder auftauchen … – und plötzlich erkannte er, was es war.
    Es war keiner der Unaussprechlichen aus der Tiefe, der versuchte, heraufzukommen. Es war ein Mensch, der versuchte, nicht unterzugehen. Ein Mensch, der mitten in der Nacht, mitten auf dem Pazifik, mit dem Tod kämpfte.
    José war mit einem Satz bei der Backbordreling. Er beugte sich hinüber und streckte beide Arme aus. Kurz darauf bekam er einen Ärmel zu fassen, dann ein Handgelenk, und er zog. Die Person im Wasser wehrte sich, vielleicht hielt sie Josés Griff für den Griff des Meeres – doch sie hatte keine Kraft mehr. Er fragte sich, wie lange sie schon mit dem Wasser kämpfte. Das Meer zog an seiner Beute wie ein ärgerliches Tier, aber schließlich gelang es José, den anderen Menschen über die Reling zu zerren. Dann lagen sie beide an Deck in einer Pfütze aus Salzwasser.
    José rappelte sich auf, korrigierte mit einem raschen Blick zum Himmel den Kurs und stellte das Steuerrad fest. Eine Weile würde die Mariposa den Kurs von allein halten.
    Er hockte sich neben den Körper, der sich jetzt nicht mehr rührte. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie er selbst, nur viel magerer. Verglichen mit den
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