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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa
Autoren: Antonia Michaelis
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Hose und schloss die Tür hinter sich. In absoluter Dunkelheit schälte er sich aus seinen nassen Kleidern, schlüpfte in die trockenen Sachen und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach Tabak und Orangenschalen, nach Erde und Sonne und dem Saft grüner Pflanzen.
    Auf einer der Bänke fand er eine Wolldecke und verkroch sich darunter wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Die Schildkröten … am liebsten hatte Mama von den Schildkröten vorgelesen … Das Geräusch des Wassers, das draußen gegen die Schiffswand schlug, war unbekannt und nah, ganz anders als die Geräusche der Isabelita oder des Ozeankreuzers, dessen stampfende Motoren ihn monatelang in den Schlaf gewiegt hatten. Dann waren da leise Schritte im Dunkeln, etwas wurde beiseitegeschoben: José musste heruntergekommen sein, um nach ihm zu sehen. Er verkroch sich tiefer unter der Decke. Sekunden später schlief er fest und diesmal traumlos.
    José wartete lange, doch der fremde Junge tauchte nicht wieder auf. Eine Weile hatte er ihn dort unten herumtappen hören, aber nun war es still. Die Nacht und die Mariposa gehörten ihm allein. Er hatte eine Menge Zeit, über den fremden Jungen nachzudenken, aber seine Gedanken wurden immer zäher und verworrener. Die beiden Amerikaner lehnten darin am Mast und tranken Bier. Seine Brüder saßen auf dem Dach der Kajüte und sortierten Saatgut, während Mama Carmelita mit einer großen Schere das Großsegel zerschnitt, um Kleider für Josés kleine Schwestern daraus zu nähen. »Lasst das bleiben!«, wollte er rufen, und da merkte er, dass er träumte.
    Er riss sich zusammen und korrigierte den Kurs, aber Minuten später war er wieder weggenickt. So kämpfte er bis zum Morgengrauen einen Kampf gegen sich selbst und seine Müdigkeit. Und als das Meer im Osten eine rote Blase ausstieß, die über den Horizont hinaufstieg und sich schließlich vom Wasser löste, da begriff er erst nach einer Weile, dass dies kein Traum war, sondern die Sonne. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er den Jungen brauchte, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Egal, wer er war. Er brauchte jemanden, der das Steuer übernahm, wenn er müde wurde. In dieser Nacht war der Wind lau – bei jedem anderen Wetter würde es nichts nützen, das Steuer einfach festzustellen.
    Er wusste nicht, wie lange er zur Isla Maldita brauchen würde, aber plötzlich erschrak er über sich selbst, über die Idee, es allein zu versuchen. Du bist verrückt, sagte die Abuelita, loco. Aber Dios, Gott, hat dich gesehen, da unten auf dem riesigen Ozean, auf deinem Honigboot, deiner Totenbarke, und er hat dir jemanden vor den Bug geworfen, der …
    »Unsinn«, sagte José laut. »Abuelita, Gott wirft nicht mit fremden Jungen, nicht einmal über dem Pazifik, und wieso bist du überhaupt schon wach um diese Zeit?«
    Er schüttelte die alte Frau aus seinem Kopf, befestigte das Steuer abermals und stieg die vier Stufen zur winzigen Tür der Kajüte hinunter. Er öffnete die Tür vorsichtig. Das erste rote Morgenlicht strömte in den kleinen Raum, als hätte es sich seit Stunden danach gesehnt, ihn zu erhellen. Wie Wasser stieg es an den Wänden hoch, und als es die Kabine ganz ausgefüllt hatte, fand José darin den fremden Jungen. Er lag auf der Steuerbordbank, in Josés Kleidern, halb in eine Decke gewickelt. Die Decke musste er irgendwo in der Kajüte gefunden haben. Vielleicht, dachte José, war der alte Casaflora unter dieser Decke gestorben. Vielleicht auf dieser Bank. Aber die Brust des Jungen hob und senkte sich regelmäßig und sehr lebendig.
    Auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kajüte lagen seine Kleider. José hielt die nasse Jacke ans Gesicht und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach weiter Ferne, nach einer zu langen Reise und nach Angstschweiß. Er beobachtete, wie das rötliche Morgenlicht mit vorsichtigen Fingern das Gesicht des Jungen betastete. Das blonde Haar war ihm aus der Stirn gefallen und gab eine schlecht verheilte Narbe frei. Was hatte dieser Junge erlebt und wie war er hierhergekommen?
    José kam sich vor wie ein Dieb, als er seine Jackentaschen durchsuchte. Er fand eine zusammengeknüllte alte Mütze, ein rotes Seidenband … und einen Pass. Tatsächlich, einen Pass. »Jonathan Smith«, las José. »Geboren am 12.2.1929 in London.« Aber wer war Jonathan Smith?
    Hätte José gewusst, dass der wahre Jonathan Smith tot war, hätte ihn das vermutlich nicht beruhigt.
    Jonathan schlug die Augen auf und spürte, dass es Morgen war. Aber
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