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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa
Autoren: Antonia Michaelis
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bist du, kicherte sie, rettest einen, der gar nicht gerettet werden will … Er ärgerte sich darüber, dass der Wind drehte und sie nicht mehr so gut vorankamen, und über die ganze gottverdammte Welt. Als Santiago nahe genug war, dass er einzelne Buchten erkennen konnte, hörte er auf, sich zu ärgern, und begann sich ein paar Dinge zu fragen.
    Er fragte sich zum Beispiel, woher die Pistole gekommen war. Wenn Jonathan die Wahrheit sagte, war es nicht seine. José musste sie bei seinem ersten Besuch in der Kajüte übersehen haben. Aber hatten die Amerikaner sich das Schiff nicht angesehen, das in den Hafen von Baltra geschleppt worden war? Hätten sie die Waffe nicht mitgenommen, wenn sie schon damals auf dem Tisch gelegen hätte?
    Jonathan hatte die ganze Zeit über still dagesessen und aufs Meer hinausgesehen. Er trug wieder seine eigenen Kleider, obwohl auch die ihm zu groß zu sein schienen. Er hatte darauf bestanden, sich in der Kajüte umzuziehen. Aber wenigstens hatte er keinen Versuch mehr gemacht, ins Wasser zu springen.
    »Übernimm du das Steuer«, sagte José jetzt. »Ich bin gleich wieder da.«
    »Ich kann nicht …«
    José seufzte. »Jeder kann ein Steuer festhalten.«
    Er kletterte unter Deck und sah sich noch einmal genauer um. Er schüttelte die Kleider bei den Kanistern aus. Es war nur ein Haufen alter Kleider. Die Kleider eines Toten. Nichts in den Taschen. Er untersuchte die beiden Bänke. Sie ließen sich hochklappen, und für einen Moment dachte José, er würde dort ein Geheimnis finden, doch er fand nur Werkzeuge und Farbtöpfe. Über den Bänken gab es zu jeder Seite ein Regal, vorn gesichert durch ein zusätzliches Brett, damit die Dosen mit den Nahrungsmitteln nicht herunterfielen. Rechts, an der Steuerbordseite, konnte man die Wand über dem Regal aufklappen, und dahinter standen noch mehr Dosen mit Nahrungsmitteln. Immerhin würde er nicht verhungern. Trotzdem gab es noch immer keine Erklärung für das Auftauchen der Pistole.
    Durch die angelehnte Kajütentür sah José, wie Jonathan das Steuerruder mit beiden Händen festhielt. Er lächelte. Da war etwas in Jonathans Augen, das ihn hoffen ließ. »Hilf mir, Mariposa«, wisperte José. »Zeig ihm, wie gut es sich anfühlt, dich zu steuern. Lass ihn diese alte Rechnung vergessen, die er mit dem Tod offen hat. Lass …«
    In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Berührung auf seiner Schulter war noch da. Etwas saß dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.
    Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. José stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es ließ sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.
    José verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da hörte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«
    »Bitte was?«, fragte José verärgert. »Und was ist überhaupt so lustig?«
    »Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«
    »Woher weißt du das?«
    Jonathan streckte die Hand aus und löste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Josés Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.
    »Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafür zu Tausenden. Sie geht über Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorräte. Gib sie her.«
    Doch Jonathan drückte die Ratte an sich wie einen Schatz. »Das Leben kommt von Gott«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Auch das Leben einer Ratte. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«
    José knurrte. »Carmen«, sagte er dann.
    Sie erreichten Santiago, als der Abend kam. Es war ein Tag voller Schweigen gewesen. Jonathans Schweigsamkeit war wie eine Mauer, gegen die José nicht ankam. Er wünschte, er hätte noch ein Dutzend Ratten unter Deck gefunden, damit Jonathan über sie lachen konnte, doch Carmen blieb der einzige blinde Passagier. Sie hatte sich mit etwas Brot füttern lassen und war offenbar jetzt damit beschäftigt, unter Deck aufzuräumen. Ab und zu hörte man etwas hinunterfallen.
    José
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