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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa
Autoren: Antonia Michaelis
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Luft der Inseln war voll von Nervosität. Manche von den deutschen Siedlern auf den Inseln waren bereits ausgewiesen worden: plötzlich zu Feinden geworden, als die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren. Denn Ecuador und die Inseln standen aufseiten der Amerikaner, natürlich. Manche andere, Engländer, Franzosen, Amerikaner, hatten von zu Hause den Befehl erhalten, zurückzukehren und Teil des Krieges zu werden. Der Rest wartete: auf die Nacht, auf den nächsten, den übernächsten Tag – im Herzen keine Ruhe, auf den Lippen schon Abschiedsworte.
    Und José wartete mit ihnen. Darauf, dass etwas geschah. In den Nächten träumte er, und im Traum segelte er ganz allein nach Europa, um zu kämpfen wie ein Mann. Gegen die Deutschen und für die Freiheit. Ein Schiff, dachte er, müsste man besitzen – eines wie diese kleine honiggelbe Jacht, die am Anleger lag. Ihr lackiertes Holz glänzte in der Sonne wie der dunkle, flüssige Honig aus frischen Bienenwaben.
    »José?«
    Er fuhr herum. Hinter ihm stand sein Vater. »Mein Junge«, sagte er. »Ich habe dich gesucht. Sage mir, siehst du den blauen Schatten dort hinten, fast hinter dem Horizont? Ein Stück rechts von Santiago?«
    Natürlich sah José den blauen Schatten. Die Isla Maldita. Die verfluchte Insel. Ein Ort der Vergangenheit, der nichts mit dem Krieg zu tun hatte, der José rief.
    »Vielleicht ist diese Insel schuld daran, dass ich keine Helden in meiner Familie haben will«, sagte Josés Vater. »Dein Urgroßvater, weißt du, mein Großvater – er wollte ein Held sein wie du. Es gab keinen Krieg, in dem er kämpfen konnte. Keinen Feind. Da hat er gegen den größten Feind gekämpft, den der Mensch besitzt: das Meer. Er … ist zur Isla Maldita gesegelt. Ganz allein, in seinem winzigen Boot. Es gab schon immer eine Menge Geschichten über die Insel. Jeder, der daran vorübersegelte, brachte neue Geschichten mit. Manche wollten die Schreie von Menschen gehört haben, andere berichteten von Feuerschein. Früher haben Piraten dort gehaust, so viel ist sicher.«
    »Früher haben überall Piraten gehaust«, sagte José. »Auf allen Inseln. Und?«
    »Mein Großvater erklärte mir, er käme bald zurück und er würde Schätze mitbringen, gleißende, glitzernde Diamanten, groß wie Melonen. Irgendwie war er an eine alte Karte der Insel gekommen, und er war überzeugt, sie stammte aus der Zeit der Piraten und darauf wäre ein Schatz eingezeichnet. Ein altes Versteck, das niemand je gefunden hatte, weil niemand je gewagt hatte zu suchen. Ich lauschte ihm mit großen Augen. Ich war gerade sieben Jahre alt. Ich liebte meinen Großvater sehr. Doch die Augen meiner Mutter und meiner Großmutter waren rot geweint, als er ging. Er ist trotzdem gegangen.«
    José versuchte sich seine Urgroßmutter als junge Frau mit rot geweinten Augen vorzustellen, aber das war schwierig. Für ihn war sie immer die Abuelita gewesen, das Großmütterchen, immer alt: voller Falten, voller Geschichten. Nur von der Reise ihres Mannes, des Abuelitos, hatte sie nie erzählt.
    »Er ist … nicht zurückgekommen«, sagte José.
    Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist nicht zurückgekommen. Alles, was ich von meinem Großvater habe, ist eine Kopie der Karte. Ich habe sie als kleiner Junge abgezeichnet, ehe er fortging. Ich trage sie bei mir wie einen Talisman. Ein dummes Stück Papier. Verstehst du jetzt? Verstehst du, dass ich nicht will, dass du ein Held wirst? Helden sterben alle jung.«
    Er griff in die Tasche seiner Arbeitsjacke und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus, das er José hinhielt. »Die Karte«, sagte er. »Mein Talisman. Nimm sie mit, wenn du morgen mit Silvio nach Isabela zurückfährst.«
    José nahm das Stück Papier. Es fühlte sich alt und brüchig an in seinen Händen. »Warum?«
    »Damit du daran denkst, dass manche Helden nicht zurückkommen. Warte noch ein Weilchen damit, ein Held zu werden. Versprich es mir.«
    »Ich verspreche es«, sagte José und steckte das Stück Papier ein, ohne es anzusehen. Ohne seinen Vater anzusehen. Er wusste, dass er seinen Vater belog.
    »Wem gehört die gelbe Jacht dort am Kai?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
    Sein Vater seufzte. »Die Mariposa«, sagte er, und jetzt sah José den dunklen Schriftzug am Heck. »Einem Toten.«
    José schüttelte unwillig den Kopf. »Einem Toten?«
    »Ja. Doktor Juan Casaflora. Einer von den Weltenbummlern hier. Vor ein paar Tagen ist er losgesegelt nach Isabela, aber er ist wohl
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