Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
Schwäbische Alb. Das Wetter erlaubte, dass sie bis weit in die Nacht reiten konnten, um dann für ein paar wenige Stunden auf ihren Fellen unter freiem Himmel zu schlafen. Nun, da sich die schwedischen Truppen hinter die Grenzen des Reichszurückgezogen hatten, war es zumindest hier im Süden ruhig geworden. Mit der Sicherheit eines Blinden, der jeden Winkel seines Hauses kennt, führte Sandor sie quer durch die Lande. Dabei gab es Tage, an denen sie keine Menschenseele zu Gesicht bekamen. Nur wenn es nicht zu vermeiden war, kreuzten sie eine der großen Landstraßen. Dann sahen sie Scharen von zerlumpten Gestalten, auf der Flucht vor Plünderern oder auf der Suche nach Beute oder auch beides zugleich. Wer von ihnen Bauer, Bürger oder versprengter Soldat war, war nicht mehr zu unterscheiden, Hunger und Elend hatten alle gleich gemacht. Je weiter sie nach Norden kamen, in die Nähe der größeren Städte, desto häufiger begegneten sie Krüppeln und Gebrandmarkten, ausgemusterten Soldaten, die sich armlos oder auf ihren Holzbeinen den Weg entlang schleppten, Männern, denen man die Nase abgeschnitten hatte oder die Ohren.
    Sie hielten sich stets in Deckung vor den Menschen, warteten im Schutz von Unterholz oder Felsen, bis die anderen vorüber gezogen waren. Einmal trafen sie auf einer Lichtung völlig unvorbereitet auf eine junge Frau, die allein und völlig selbstvergessen die ersten Frühlingsblumen pflückte. Sie schreckte auf, als sie das gedämpfte Hufgetrappel hinter sich hörte.
    Sandor sprach sie an, entgegen seinen Grundsätzen, da ihr Proviant zur Neige ging.
    «Gibt es hier ein Dorf, wo wir was zu essen bekommen?»
    Sie lachte fröhlich und deutete auf einen Hügel, hinter dem eine Kirchturmspitze aufragte: «Mein Dorf. Ein schönes Dorf. Nachts kommen die Wölfe und Füchse. Das ist das Zeichen.»
    Wieder lachte sie. Agnes lief ein Schauer über den Rücken.
    «Was für ein Zeichen?», fragte sie.
    «Dass das Ende der Welt bevorsteht. Hier, das ist für Euch, schöner Mann.»
    Sie reichte Sandor den Blumenstrauß. Der schüttelte den Kopf. «Behaltet ihn nur.»
    «Danke.» Sie führte den Strauß zum Mund und verschlang die Blumen mit gierigen Bissen.
    «Lass uns rasch weiterreiten», flüsterte Agnes. Sie fühlte wieder dieses Entsetzen aufsteigen, das Entsetzen darüber, was der Krieg aus den Menschen gemacht hatte. Sie wollte in kein Dorf mehr, in keine fremde Stadt. Lieber den bohrenden Schmerz des Hungers ertragen als den Jammer dieser Menschen, den ewig gleichen Anblick zerstörter und ausgebrannter Häuser. Erst vor zwei Tagen hatten sie beobachtet, wie zwei Männer auf dem Kirchacker einer Dorfkirche ein frisches Grab geöffnet hatten. Sie wusste längst, dass die Menschen in ihrer Verzweiflung nicht mehr nur verendete Tiere aßen. Man hörte sogar noch Grausigeres: dass Eltern ihre verstorbenen Kinder, Kinder ihre getöteten Eltern brieten. Gelähmt vor Grauen, hatten sie noch gesehen, wie die Männer mit großen Messern an dem Leichnam herumzuschneiden begannen, dann hatten sie ihre Pferde herumgeworfen und waren davongaloppiert. Matthes hatte plötzlich zu schluchzen begonnen.
    «Das ist nicht mehr unser Krieg», hatte er immer wieder hervorgestoßen.
    «Unser Krieg!», hatte Agnes ihn irgendwann angebrüllt. «Das war noch nie unser Krieg.» Dennoch ahnte sie, was er meinte.
    So kämpften sie sich ohne Proviant weiter, ernährten sich von Gräsern und Wurzeln und auf Steinen gerösteten Kröten, die sie am Wegesrand bei ihrem Liebesspiel überraschten. Doch Agnes wusste, noch zwei, drei Tage, dann wären sie am Ziel. War sie zunächst überglücklich gewesen, dass Sandor sie begleitete, so spürte sie nun, dass ein Abschied auf dem Hohentwiel ihr leichter gefallen wäre. Mit jeder Stunde, mit jedem Huftritt, der sie Stuttgart näher brachte, wurde der Gedanke quälender, ihre eben erst erblühte Liebe wieder aus der Hand geben zu müssen. Das einzig Tröstliche: Ihre Mutter war ihr erschienen in einer dieser Nächte, mit zufriedenem Lächeln und den Worten: Ich freuemich. Sie war noch am Leben, dessen war sich Agnes sicher. Nur Jakob hatte sie in diesem Traum nicht erkennen können.
    Bereits am achten Tag erreichten sie die weitläufige Ebene der Fildern südlich der Residenz. Keiner sprach ein Wort an diesem kühlen, windigen Apriltag, jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Matthes wirkte regelrecht verstört, und Agnes bemerkte, dass ihn noch etwas anderes als die Aufregung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher