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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille
Autoren: Gilles Del Pappas
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Kerlen, die sie in der Rue de la République aufgegriffen haben …
    Als sie endlich genug von ihr haben, ist es dunkel. Sie werfen die halb Bewusstlose in den Citroën und fahren sie zu den übrigen jungen Mädchen, die auf ihren Abtransport nach Compiègne warten. Von da aus machen sie eine fürchterliche Odyssee nach Dachau mit, wo sie den tapferen Frontsoldaten während ihres Heimaturlaubs als Huren dienen.
    Sie hat Glück …
    Wenn man so etwas Glück nennen kann … Ein höherer Offizier verliebt sich in sie und ermöglicht ihr so, ihrem vorherbestimmten Schicksal zu entkommen. Alle ihre Gefährtinnen sterben nach spätestens drei Monaten an Entkräftung.
    Der Offizier ist kein schlechter Kerl, aber das junge Mädchen hat zu diesem Zeitpunkt keine Gefühle mehr. Wer weiß? Vielleicht ist das gerade der Grund, warum der Mann sie liebt.
    Irgendwann war es vorbei.
    Nach dem Krieg hätten ein paar Résistancekämpfer der letzten Stunde ihr, der Deutschenhure, beinahe die Haare abrasiert. Als sie ihr ins Gesicht spuckten, sah sie die Männer lange an, ohne mit der Wimper zu zucken … Einen von ihnen hat sie noch deutlich vor Augen. Er hätte sehr gut in diesem schwarzen Wagen sitzen können, dem Symbol ihres Unglücks. Als ihnen angesichts ihrer toten Augen unbehaglich zumute wurde, schob sie langsam ihren Ärmel hoch. Sie sahen die unheilvolle blaue Tätowierung, den unanfechtbaren Beweis für ihre Ankunft im Lager, und wichen zurück.
    Der Rasierapparat entfernte sich.
    Sie kehrte nach Marseille zurück, dorthin, wo sie als Kind glücklich gewesen war, und versuchte, Bruchstücke ihrer friedlichen Kindheit wiederzufinden …
    »Und eines Tages bringt dir unser versoffener Briefträger Nono ein Paket, Constantin …«
    Philippe und ich sitzen da. Die anderen Bullen sind nach Hause zu ihren Familien gegangen. Es ist spät.
    Esther erzählt unter der grünen Metalllampe in ihrer Küche. Auf der gelben Wachstuchdecke bilden die schwarzen Kreise des Kaffees, den wir trinken, geometrische Muster. Eine vom Zucker angelockte Fliege summt um uns herum. Esther verjagt sie beinahe zärtlich. Eines der vielen Geheimnisse der Geschichte von Marseille findet hier den Anfang einer Antwort. Meine Nachbarin ist nicht müde. Sie erklärt uns alles darüber, wie sie diesen Abschaum Auguste Roussel getötet hat. Sie hat sofort zugegeben, dass sie das Paket angenommen hat, das für mich gekommen war. Das Paket mit Alix’ Brief und den Beweisen für die Verstrickungen des Unternehmers in die Zerstörung des alten Viertels. Aus Habgier …
    »Das Paket war aufgerissen, und ein Foto ist herausgefallen. Darauf war er zu sehen … Mit einem Schlag kam die Vergangenheit, die ich tief in meinem Inneren vergraben hatte, wieder hoch … wie ein heftiger Schwall. Ich dachte, ich würde sterben … Fast hätte ich alles verbrannt … Aber dann habe ich den Umschlag geöffnet … Die Büchse der Pandora …«
    Sie sieht mich zärtlich an und legt eine Hand auf die meine.
    »Entschuldige, Constantin, aber ich habe den Brief gelesen, den das junge Mädchen dir geschrieben hat. In dem Paket waren auch pornografische Bilder von Alix als Kind mit diesem Teufel. Das habe ich nicht ertragen. Ich habe sie zerstört … Wie kann man nur so etwas tun?«
    Wir sitzen einen Moment lang da und stellen uns die finsteren Szenen vor, die ihre Worte heraufbeschwören. Dann spricht Esther weiter.
    »Ich habe die ganze Akte gelesen. Natürlich spreche ich Deutsch, ich habe es da oben gelernt … Und mir ist vieles klar geworden. Ich fand Antworten auf sämtliche Fragen … In diesen Unterlagen steht alles drin, meine Kleinen … Die Namen der Leute, die sich auf Kosten der armen Menschen bereichert haben, die 1943 aus ihren Häusern vertrieben wurden. Die frei gewordenen Grundstücke, die später wieder bebaut wurden … Darunter sind sogar Familien … ihr werdet überrascht sein … Familien von Stadtverordneten, die das ›gute Frankreich‹ predigen. Wie schon damals übrigens … Schon ihre Väter …«
    »Roussel war also daran beteiligt?«, frage ich sie.
    »Mehr als alle anderen. Ich will damit nicht sagen, dass es kleine und große Schuld gibt. Aber er war die Verbindung zwischen den boches, der Stadtverwaltung und den Marseiller Großbürgern, die in das Grauen investiert haben. Sie sind alle aufgelistet … Und wisst ihr, was der Gipfel des Ganzen ist? Es ist sogar ein Jude darunter!«
    Wir schweigen. Esther fährt fort.
    »Ich habe keine Sekunde
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