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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen
Autoren: Ulrich Kiesow
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»Also los, verteilt euch!« sagte er zu uns, »und seht sie nicht an!«
    Wir gingen ein paar Schritte in den Wald hinein und wandten Junivera den Rücken zu. Kaum hatten wir uns umgedreht, als die Priesterin einen lauten Sprechgesang anstimmte, der hin und wieder von einem dumpfen Stöhnen unterbrochen wurde. Plötzlich stieß sie einen Schreckensschrei aus, dann war alles still. Gerade als ich mich fragte, wie lange wir wohl noch auf unseren Plätzen ausharren sollten und ob wir nicht einen Fehler machten, rief Junivera uns zu sich heran. Die Haare klebten an ihrem schweißnassen Gesicht. Sie hatte einen breiten Streifen des Kleides abgerissen und als notdürftigen Verband um die Wade gewickelt. »Es ist gut«, sagte sie, »wir können weitergehen.« Damit sprang sie auf, ergriff den Esel beim Zaum und ging ohne zu hinken in den Wald hinein.
    Ich rannte rasch noch einmal zu der Stelle zurück, wo der tote Wolf lag, um meinen Dolch zu suchen. Bald hatte ich ihn gefunden und lief hinter meinen Gefährten her. Elgor und die anderen waren am Rand einer weiteren Lichtung – ganz ähnlich der ersten – stehengeblieben. Mitten darauf standen fünf schwarze Wölfe und starrten uns an.
    Elgor hob das Schwert. »Vorwärts! Diesmal werden wir es den Biestern zeigen!« Er senkte den Kopf und stürmte los. Larix folgte ihm.
    Junivera aber griff nach dem Strick, mit dem unser Gepäck auf dem Esel festgeschnallt war, und sah mich fragend an.
    Ich nickte ihr zu.
    Während Viburn und die Priesterin unsere Ranzen und Säcke einen nach dem anderen ins Gras warfen, waren Elgor und Larix bis zur Mitte der Lichtung vorgedrungen. Diesmal trabten die Wölfe nicht in den Wald, sondern wichen langsam zum Rand der Lichtung zurück. Als sie die Bäume erreicht hatten, schlüpften vier weitere Wölfe aus dem Farn, so daß der Krieger und der Zwerg nun einem Halbkreis von neun Wölfen gegenüberstanden. Die großen schwarzen Tiere kamen langsam und seltsam steifbeinig näher.
    Der Esel, von allen Lasten befreit, hob den Kopf und rieb mit den weichen Lippen über Juniveras Schulter. Der Geweihten traten plötzlich zwei dicke Tränen in die Augen. Sie drehte den Esel um, flüsterte ihm etwas ins Ohr und gab ihm einen Klaps auf das Hinterteil.
    Ein letztes Mal ließ der Esel sein vertrautes Ihh-Ahh ertönen, dann galoppierte er mit ungelenken Sprüngen davon. Wie flache, schwarze Schatten huschten die Wölfe an Elgor und Larix vorbei und verschwanden im Wald. Irgendwo war das Rascheln und Knacken von Reisig zu hören – ein Geräusch, das sich rasch in der Ferne verlor.
     
    Die Abenddämmerung sank allmählich herab. Ich hatte wieder die Rolle des Pfadfinders übernommen. Elgor schloß zu mir auf.
    »Ich meine immer noch, wir hätten den Bestien nicht nachgeben dürfen.«
    »Dann wären wir verloren gewesen.«
    »Du hältst wohl große Stücke auf diese Wölfe?«
    »Waldwölfe«, verbesserte ich. »Sie sind anders als die Wölfe, die du kennst. Eine alte, schlaue Rasse – und sie sind sehr stolz.«
    »Stolz?«
    Ich nickte. »Sie halten sich für die Herren des Waldes – und vielleicht sind sie das auch. Es fällt ihnen leicht, Hirsche oder Rehe zu erbeuten, denn sie verbinden wölfische Kraft und Zähigkeit mit der Gerissenheit eines Goblins. Aber es genügt ihnen nicht, daß ihre Beutetiere sie fürchten. Sie verlangen Achtung von jedermann, der ihren Wald betritt.«
    »Und diese Achtung haben wir gezeigt, indem wir unseren Esel opferten?«
    »So ist es. Du hast erlebt, wie sie kämpfen, und wirst zugeben, daß sie nicht dumm sind. Sie wissen, daß sie sterben können, wenn sie Menschen oder Orks überfallen. Einen Hirsch zu jagen, ist viel gefahrloser für sie. Trotzdem haben sie uns angegriffen, weil wir uns weigerten, ihnen diese Art von Ehre zu erweisen. Sie sind tatsächlich sehr stolz – fast könnte man sagen, eitel.«
    Elgor warf die dicken roten Zöpfe nach hinten. »Was wäre geschehen, wenn wir ihnen den Esel nicht überlassen hätten?«
    »Wie stark war das Rudel ... Neun Köpfe vermutlich? Nun, sie hätten uns so lange überfallen, bis keiner von ihnen mehr am Leben gewesen wäre. Sie können gar nicht anders handeln.«
    »Hm.« Elgor nickte bedächtig. »Wieso kennst du dich so gut mit diesen Wölfen aus?«
    Ich streifte den Jackenärmel hoch und zeigte ihm ein paar lange, weiße Narben. »Ich bin im Blautann aufgewachsen, im fernen Weiden. Es gibt eine Menge Waldwölfe dort. Mein Vater war Jäger in Weiden.«
    Elgor blickte
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