Die fünf Leben der Daisy West

auf.
    »Ja«, bestätige ich. »Ich bin gerade hergezogen.«
    »Ich bin Elsie Phillips«, stellt sie sich vor und lächelt abermals. »Ich bin im August aus Portland gekommen.«
    »Wie nett, noch eine Umgetopfte zu treffen«, antworte ich. »Ich habe vorher in Omaha gewohnt. Ich vermisse mein Leben dort, aber was soll man machen?«
    »Mir geht es genauso«, sagt Elsie und wirft ihre Tasche ins Schließfach. »Ich sehne mich nach Portland.«
    Wir lachen beide ein wenig, doch dann entsteht eine unbehagliche Pause. Offenbar weiß keine von uns, was sie noch sagen soll.Wieder denke ich an Audrey. Wir hatten dieses Problem nie. Aber zugegeben, mit Megan habe ich keine fünf Worte gewechselt, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben.
    »Okay, ich geh jetzt besser zum Unterricht«, sagt Elsie. »Weißt du, wohin du musst?«
    Mit gerunzelter Stirn sehe ich mich um. Dann zeige ich nach links. »Ich glaube, ich muss dort entlang.«
    »Keine Sorge, der Aufbau der Schule ist nicht kompliziert und die Leute hier sind ziemlich cool. Du wirst dich schnell einfinden.«
    »Danke«, antworte ich. Wir wenden uns voneinander ab, doch kurz darauf ruft sie mir hinterher: »Wie heißt du noch mal?«
    Mir wird sofort mulmig. Die Behörde, die für das Programm verantwortlich ist, wollte, dass ich meinen Namen wieder ändere. Und dieses Mal nicht nur den Nachnamen: für den Fall, dass das Programm nicht fortgeführt wird und ich für immer hierbleiben werde. Sie meinten, Daisy sei zu ungewöhnlich.
    Jetzt spreche ich meinen neuen Namen zum ersten Mal laut aus.
    »Oh Entschuldigung«, sage ich so locker wie möglich. »Ich glaube, ich habe das noch gar nicht gesagt. Ich heiße Sophie. Sophie Weller.«
    Mason hatte Sophie vorgeschlagen, weil das der Vorname seiner Mutter war. Und, wie ich erst letzte Woche erfahren habe, ist Weller sein richtiger Nachname.
    »Schön, dich kennenzulernen, Sophie.«
    Elsie entfernt sich und ich stelle fest, während ich zur ersten Unterrichtsstunde in der neuen Schule gehe, dass es mir nichts ausmacht, Sophie Weller zu sein. Es fühlt sich nicht falsch an. Ich strecke mich und gehe ein wenig aufrechter in meinen brandneuen Ballerinas, in der Hoffnung, dass die Sehnsucht nach Omaha eines Tages, in der nicht allzu fernen Zukunft, nicht mehr ganz so unerträglich stark ist und ich mich voll und ganz wie Sophie Weller fühlen kann.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Epilog
    Wir haben Ende Mai und die zehnte Klasse ist fast vorbei. In wenigen Wochen wird Matt für ein Musik-Camp, das den ganzen Sommer dauert, ins nahe gelegene San Francisco kommen. Wir werden uns jeden Abend und an den Wochenenden sehen können und ich freue mich so sehr darauf, dass ich kaum an mich halten kann. Bei dem Gedanken, seine Lippen wieder auf meinen zu spüren, durchfährt mich sofort ein Prickeln. Bei dem Gedanken, mit meinen Fingern durch seine Locken zu fahren, bin ich jedes Mal kurz davor, die Abschlussprüfungen sausen zu lassen und das nächste Flugzeug nach Nebraska zu nehmen.
    Überraschend leicht ist es Matt und mir gelungen zusammenzubleiben, obwohl uns über 2500 km trennen. Wir telefonieren, simsen und mailen jeden Tag, und am Wochenende, wenn wir mehr Zeit haben, skypen wir. Nachdem er seinen Eltern erklärt hat, wie schwer es für ihn war, als mein Vater so plötzlich nach Alameda versetzt wurde, haben sie ihm erlaubt, mich in den Frühjahrsferien ganze fünf Tage lang zu besuchen. Oft heißt es, Distanz sei der Todesstoß für eine Beziehung, doch bei Matt und mir ist es anscheinend anders. Vielleicht ist eine physische Trennung für uns deshalb keine Katastrophe, weil wir beide wissen, wie sich wahrer Verlust anfühlt.
    Dennoch bewirbt sich Matt nur an Unis in Nordkalifornien.
    In und auch außerhalb der Schule verbringe ich die Zeit mit Elsie, Ella und Sarah. Ella und Sarah wollen mich partout dazu bringen, dass ich Matt den Laufpass gebe. Sie finden, ich sollte mir einenJungen in unserer Zeitzone angeln. Doch Elsie versteht mich. Sie trauert ihrem letzten Freund in Portland noch immer hinterher, obwohl sie sich vor Elsies Umzug getrennt haben. Elsie, Ella, Sarah und ich sind mit Sarahs Freund und drei von seinen Kumpeln zum Abschlussball des elften Jahrgangs gegangen. Der Abend war nett und lustig, aber ich weiß, dass ich im nächsten Jahr, zu meinem eigenen Ball, mit Matt gehen werde – das muss trotz der Entfernung irgendwie möglich sein.
    Das Revive-Programm liegt noch