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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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nach Tours. Beim Verlassen des aus Nußbäumen gebildeten grünen Domes, unter welchem das Postgebäude von La Frillière versteckt lag, wurde das Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit dahingetragen, daß es im Nu an der Brücke, die über die Cise ging, bei der Mündung dieses Flusses in die Loire anlangte, wo es halten mußte. Infolge der ungestümen Eile, zu der ein junger Postillion auf Befehl seines Herrn die vier schnellsten Pferde der Poststation angefeuert hatte, war einer der Zugriemen gerissen. So hatten die beiden Personen, die sich im Innern der Kalesche befanden, durch einen Zufall Muße, bei ihrem Erwachen eine der schönsten Landschaften, die die reizvollen Ufer der Loire bieten können, zu bewundern. Zur Rechten umfaßt der Reisende mit einem Blick alle Krümmungen der Cise, die sich wie eine silberne Schlange durch das junge Gras der Wiesen windet, dem der erste Lenztrieb zu dieser Zeit einen smaragdenen Ton verlieh. Zur Linken erscheint die Loire in ihrer ganzen Pracht. Auf der weiten, vom frischen Morgenwind leichtgekräuselten Wasserfläche, die dieser majestätische Fluß entfaltet, werden die Sonnenstrahlen von unzähligen Facetten gebrochen. Wie die Edelsteine eines Halsbandes reihen sich hier und da grünende Inseln auf den schier unendlichen Wassern. Auf der anderen Seite des Flusses breiten die schönsten Landschaften der Touraine, soweit das Auge reicht, ihre Herrlichkeit aus. In der Ferne ist der Blick nur von den Hügeln des Cher begrenzt, dessen Gipfel sich zu dieser Stunde in leuchtenden Konturen von dem durchsichtigen Blau des Himmels abhoben. Durch das zarte Laubwerk der Inseln gesehen, scheint Tours, im Hintergrund des Bildes, sich wie Venedig aus dem Schoß des Wassers zu heben. Die Glockentürme seiner alten Kathedrale ragten in die phantastischen Gebilde eines weißlichen Gewölks hinein. Jenseits der Brücke, auf der der Wagen hielt, erblickt man längs der Loire bis gegen Tours eine Felsenkette, die die Natur aus einer Laune dahin gestellt zu haben scheint, um den Fluß einzudämmen, dessen Fluten unaufhörlich den Stein aushöhlen – ein Schauspiel, das stets das Staunen der Reisenden hervorruft. Das Dorf Vouvray liegt wie eingebettet in den Schlünden und Aushöhlungen dieser Felsen, die von der Brücke der Cise eine Biegung machen. Von Vouvray bis Tours hat ein Winzervolk seine Wohnstätten in den furchterregenden Klüften dieser zerrissenen Hügel. An mehr als einer Stelle sind drei Stockwerke hohe Häuser in den Felsen eingehöhlt und durch gefährliche, gleichfalls in den Stein gehauene Treppen miteinander verbunden. Oben von einem Dach aus läuft ein junges Mädchen im roten Unterrock in ihren Garten. Der Rauch eines Kamins steigt zwischen den sprossenden Reben und Ranken eines Weinbergs auf. Pächter arbeiten auf beinahe senkrecht abfallenden Feldern. Eine alte Frau sitzt mit ihrem Spinnrad ruhig auf einem eingestürzten Felsblock unter einem blühenden Mandelbaum und lächelt über das Erschrecken der Reisenden, die zu ihren Füßen vorüberziehen. Sie kümmert sich ebensowenig um die Risse, die im Boden klaffen, wie um die überhängenden Reste einer alten Mauer, deren Steinschichten nur noch von den krausen Wurzeln eines Efeumantels festgehalten werden. Der Hammer der Küfer tönt durch die in luftiger Höhe eingebauten Kellergewölbe. Das Land ist überall bestellt und fruchtbar, obwohl die Natur dem menschlichen Fleiß die Erdscholle versagt hat. Entlang der Loire ist nichts dem reichen Panorama vergleichbar, das die Touraine hier den Augen des Reisenden auftut. Das dreifache Bild dieser in ihrer Mannigfaltigkeit kaum angedeuteten Szenerie bereitet der Seele ein Schauspiel, das sie für immer in ihr Gedächtnis einprägt; und wenn ein Dichter dies genossen hat, so werden ihm seine Träume auf eine märchenhafte Weise immer wieder diese romantischen Eindrücke hervorzaubern.
    Im Augenblick, wo der Wagen auf der Brücke der Cise angelangt war, tauchten zwischen den Inseln der Loire mehrere weiße Segel auf und verliehen dieser harmonischen Landschaft einen neuen Reiz. Der starke Duft der Weiden, die den Fluß begrenzen, vermischte sich mit dem Hauch der feuchten Brise. Die Vögel ließen ihr vielstimmiges Konzert ertönen, in welches der eintönige Gesang eines Ziegenhirten eine gewisse Schwermut mischte, während die Rufe der Schiffer eine ferne Regsamkeit ahnen ließen. Ein weicher Dunst, der launisch um die in die weite Landschaft gestreuten Bäume hing, lieh dem
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