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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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die sie so reich begabt haben, ihr erstes Idol, in ein abscheuliches Skelett. Julie, lieber sähe ich dich in einen Greis verliebt als in diesen Oberst. Ach, wenn du dich nur zehn Jahre älter sehen könntest, würdest du meiner Erfahrung Gerechtigkeit widerfahren lassen! Ich kenne Victor: seine Fröhlichkeit ist ohne Geist, eine Kasernenfröhlichkeit; er ist ohne irgendeine Begabung und verschwenderisch. Er ist einer von denen, die der Himmel erschaffen hat, um am Tage vier Mahlzeiten einzunehmen und zu verdauen, zu schlafen, die erste beste zu lieben und sich zu schlagen. Er versteht das Leben nicht. Sein gutes Herz, denn ein gutes Herz hat er, wird ihn vielleicht dazu bringen, einem Unglücklichen, einem Kameraden seine Börse zu geben; aber er ist leichtfertig, er hat nicht die Feinheit des Herzens, die dem Glück einer Frau Opfer bringt; er ist unwissend, egoistisch ... es gibt da sehr viele Aber.« – »Nun, Vater, er muß doch wohl etwas Geist und Begabung haben, da man ihn zum Oberst gemacht hat.« – »Meine Liebe, Victor wird sein ganzes Leben Oberst bleiben. – Ich habe noch keinen gesehen, der mir deiner würdig erschienen wäre«, sagte der alte Vater mit einer gewissen Begeisterung.
    Er hielt einen Moment inne, sah seine Tochter an und fügte hinzu: »Meine liebe, arme Julie, du bist noch zu jung, zu zart, zu empfindsam, um die Leiden und Mühseligkeiten der Ehe zu ertragen. D'Aiglemont ist von seinen Eltern verwöhnt worden, ebenso wie du von deiner Mutter und mir verwöhnt worden bist. Wie ist es denkbar, daß ihr beide euch solltet verstehen können, da jeder von euch seinen eigenen Willen hat, der mit dem des anderen unvereinbar ist? Du wirst dich entweder tyrannisieren lassen oder selbst Tyrann sein. Das eine wie das andere bringt gleichermaßen Unglück in das Leben einer Frau. Doch du bist sanft und bescheiden, du wirst dich also zuerst beugen. Du hast«, sagte er mit zitternder Stimme, »eine Herzensanmut, die man nicht zu würdigen wissen wird, und dann ...« Er beendete den Satz nicht, die Tränen übermannten ihn. »Victor«, fing er nach einer Pause wieder an, »wird die unschuldigen Regungen deiner jungen Seele verletzen. Ich kenne die Soldaten, meine Julie; ich habe unter ihnen gelebt. Es ist selten, daß das Herz dieser Leute stark genug ist, um über die Gewohnheiten Herr zu werden, die sie inmitten all des Unglücks, das sie umgibt, und in den Zufällen ihres abenteuerlichen Lebens angenommen haben.« – »Du willst dich also meinen Gefühlen entgegensetzen und mich für dich und nicht für mich verheiraten?« versetzte Julie in einem Ton, der zwischen Ernst und Scherz lag. »Dich für mich verheiraten!« rief der Vater überrascht, »für mich, dessen freundlich warnende Stimme du bald nicht mehr hören wirst. Ich habe immer gesehen, daß die Kinder die Opfer, die ihnen ihre Eltern auferlegen, einem eigennützigen Gefühle zugeschrieben haben. Heirate Victor, meine Julie! Eines Tages wirst du seine Nichtigkeit, seine Liederlichkeit, seinen Egoismus, sein fehlendes Zartgefühl, seine Unfähigkeit zur Liebe und soundsoviel anderes Ungemach, das er dir bereiten wird, bitter beweinen. Dann erinnere dich, daß unter diesen Bäumen dich die prophetische Stimme deines Vaters vergeblich gewarnt hat!«
    Der Greis schwieg, er hatte bemerkt, wie seine Tochter trotzig den Kopf schüttelte. Die beiden schritten auf das Gitter zu, wo ihr Wagen hielt. Während dieses schweigsamen Ganges beobachtete das junge Mädchen verstohlen das Gesicht ihres Vaters und gab ihre schmollende Miene allmählich auf. Der tiefe Schmerz, der auf dieser herabgeneigten Stirn eingegraben war, machte einen lebhaften Eindruck auf sie. »Ich verspreche dir, lieber Vater«, sagte sie mit sanfter und bewegter Stimme, »dir nicht mehr von Victor zu reden, bevor du von den Vorurteilen, die du gegen ihn hegst, abgekommen bist.« Der Greis betrachtete seine Tochter mit Erstaunen. Zwei Tränen rannen ihm über die gefurchten Wangen. Er konnte Julie vor der Menge, die sie umgab, nicht umarmen, aber er drückte ihr zärtlich die Hand. Als er den Wagen bestieg, waren alle sorgenvollen Gedanken, die seine Stirn umwölkt hatten, verflogen. Die ein wenig traurige Haltung seiner Tochter beunruhigte ihn weit weniger als die unschuldige Freude, deren geheime Ursache sie bei der Revue verraten hatte.
    In den ersten Märztagen des Jahres 1814, knapp ein Jahr nach dieser Heerschau des Kaisers, rollte eine Kalesche auf dem Wege von Amboise
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