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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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von denen, die so lange die Bewunderung der Pariser und der Fremden erregt hatten. Die alte Garde sollte zum letztenmal die kunstvollen Bewegungen ausführen, deren Pracht und Präzision den Riesen bisweilen selber in Erstaunen zu setzen vermochten, den Riesen, der sich zu seinem Zweikampf mit Europa rüstete. Es war ein Gefühl von Trauer, das eine Menge Schaulustiger im Sonntagsstaat zu den Tuilerien hinführte. Jeder schien die Zukunft zu erraten und vielleicht zu ahnen, daß die Phantasie sich noch oft das Bild dieses Schauspiels zurückrufen würde, wenn diese heldischen Zeiten Frankreichs, wie es heute ist, schon einen fast sagenhaften Charakter angenommen haben würden.
    »Laß uns doch schneller gehen, lieber Vater!« mahnte das junge Mädchen und zog den Greis mutwillig vorwärts, »ich höre die Trommler.« – »Das sind die Truppen, die in die Tuilerien einziehen«, beschwichtigte er. »Oder die defilieren ... es kommen schon alle zurück«, erwiderte sie mit einem kindlichen Mißmut, der den Greis lächeln ließ. »Die Parade beginnt erst um halb eins«, begütigte der Vater, der seiner ungestümen Tochter kaum mehr folgen konnte.
    Wie sie ihren rechten Arm schwang, hätte man meinen können, sie brauche das, um schneller vorwärts zu kommen. Ihre wohlbehandschuhte kleine Hand, die ungeduldig ein Taschentuch zerknitterte, glich dem Ruder eines Bootes, das die Wellen teilt. Der alte Herr lächelte hin und wieder, doch zuweilen verdüsterte auch flüchtig ein sorgenvoller Ausdruck sein hageres Gesicht. Seine Liebe für das schöne Geschöpf ließ ihn die Gegenwart ebenso genießen, wie sie ihn die Zukunft fürchten ließ. Er schien sich zu sagen: ›Heute ist sie glücklich, wird sie es immer sein?‹ Denn die Alten sind nur zu sehr geneigt, der Zukunft ihrer Kinder die Mitgift ihrer Sorgen aufzubürden. Als Vater und Tochter unter dem Säulengang des Pavillons angelangt waren, auf dessen Spitze die Trikolore flatterte und den die Spaziergänger auf ihrem Weg vom Tuileriengarten zur Place du Carrousel passieren müssen, riefen die Posten barsch: »Kein Durchgang mehr!«
    Die Kleine stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte eine Vielzahl geputzter Frauen sehen, die die beiden Seiten des alten Marmorbogens, durch den der Kaiser herauskommen mußte, versperrten.
    »Siehst du wohl, lieber Vater, wir sind zu spät von daheim weggegangen.«
    Ihre betrübte Schmollmiene verriet, wie wichtig es ihr gewesen war, bei der Heerschau zugegen zu sein.
    »Komm, Julie, laß uns gehen, du willst doch nicht zerdrückt werden!« – »Ach nein, bleiben wir, lieber Vater! Von hier aus kann ich immerhin noch den Kaiser sehen; wenn er im Feldzug umkäme, hätte ich ihn nie zu sehen bekommen.«
    Der Vater erschrak, als er diese egoistischen Worte vernahm; seine Tochter hatte Tränen in der Stimme. Er sah sie an, und es kam ihm der Gedanke, daß die Tränen unter ihren gesenkten Lidern wohl weniger von diesem Verdruß als von einem jener ersten Bekümmernisse herrührten, deren geheimer Ursprung für einen alten Vater leicht zu erraten war. Plötzlich errötete Julie und stieß einen Ruf aus, den weder die Posten noch der Vater verstehen konnten. Ein Offizier, der aus dem Hof auf die Treppe zueilte, wandte sich bei diesem Ruf schnell um, kam bis zu der Gartenarkade heran, erkannte die junge Dame, die einen Augenblick von den großen Fellmützen der Grenadiere verdeckt gewesen war, und ließ sofort für sie und ihren Vater das Verbot, das er selbst erteilt hatte, aufheben. Dann zog er, ohne sich um das Murren der eleganten Menge, die das Tor belagerte, zu kümmern, die entzückte Kleine sanft an sich.
    »Nun wundere ich mich nicht mehr, weder über ihren Zorn noch über ihr Ungestüm, da du hier Dienst tatest«, sagte der alte Herr mit einem Ton, der zugleich ernst und neckend war.
    »Monsieur, wenn Sie einen guten Platz haben wollen«, antwortete der junge Mann, »dürfen wir jetzt nicht plaudern. Der Kaiser liebt es nicht zu warten, und ich bin vom Großmarschall zur Meldung befohlen.«
    Während er sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit Julies Arm genommen und sie hastig zum Carrousel hin fortgezogen. Julie sah erstaunt, wie sich eine endlose Menge in den kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des Palastes und den von Ketten gezogenen Schranken, mit denen man inmitten des Hofes der Tuilerien große sandbestreute Vierecke abgegrenzt hatte, drängte. Die Postenkette, die den Weg für den Kaiser und seinen
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