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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Welt.‹ Trotz seines absichtsvollen Bemühens ist der Mensch nichts als ein Spielball des Schicksals.« Daß sie nicht darauf geantwortet hatte, verwunderte ihn nicht. Auch ihre Beziehung war von besagtem Fall belastet worden.
    Eine Gestalt in grauer Mao-Jacke tauchte hinter ihm auf und sprach ihn mit ernster, verhaltener Stimme an: »Genosse Oberinspektor Chen.«
    Er erkannte Zhang Hongwei, einen der älteren Parkaufseher. In den siebziger Jahren hatte Zhang einen Mao-Button am Revers getragen und war durch den Park patrouilliert, als hätte er Sprungfedern unter den Sohlen. Immer wieder hatte er dem Englischlehrbuch in Chens Händen mißbilligende Blicke zugeworfen. Jetzt, kahlköpfig, faltig und jenseits der Fünfzig, schlurfte er durch den Park; die graue Jacke war die gleiche, nur der Mao-Button fehlte.
    »Kommen Sie bitte mal mit, Genosse Oberinspektor Chen.«
    Er folgte Zhang zu einer besonders düsteren Stelle des Parks etwa fünf Meter vom Hintereingang entfernt, die vom Ufer her mit immergrünen Büschen überwachsen war. Dort lag rücklings eine von zahlreichen Wunden entstellte Leiche, um die sich ein surreales Netz aus blutigen Rinnsalen spannte. Eine rote Spur zog sich vom Ufer zu dem Platz, an dem die Leiche lag.
    Nie hätte Oberinspektor Chen sich träumen lassen, daß er im Bund-Park ein Mordopfer würde untersuchen müssen.
    »Ich habe gerade meine Morgenrunde gemacht, und da habe ich ihn entdeckt, Genosse Oberinspektor Chen. Wir alle wissen, daß sie morgens oft hierherkommen«, erklärte Zhang entschuldigend, »deshalb …«
    »Wann haben Sie heute morgen Ihre Runde gemacht?«
    »So etwa um sechs. Gleich nachdem der Park geöffnet wurde.«
    »Und wann haben Sie gestern abend zum letzten Mal nachgesehen?«
    »Das war um halb zwölf. Wir kontrollieren dann immer besonders genau. Niemand ist hier zurückgeblieben.«
    »Sie sind also sicher …«
    Ihr Gespräch wurde von Gelächter unterbrochen, das vom Ufer nahe des Ausgangs herüberschallte. Dort posierte eine junge Frau mit japanischem Schirm für die Kamera eines jungen Mannes. Sie saß auf der Ufermauer und lehnte den Oberkörper auf den Fluß hinaus. Eine gefährliche Pose. Ihre Wangen glühten, die Kamera blitzte. Vermutlich Neuvermählte auf Hochzeitsreise. Ein romantischer Tag, der mit einem Fototermin im Bund-Park begann.
    »Lassen Sie den Park räumen, und halten Sie ihn den Vormittag über geschlossen«, befahl Chen stirnrunzelnd. Dann schrieb er eine Nummer auf den Rand seines Lesezeichens. »Und rufen Sie von Ihrem Büro aus diese Nummer an. Da meldet sich Hauptwachtmeister Yu Guangming. Sagen Sie ihm, er möchte bitte sofort herkommen.«
    Nachdem Zhang davongeeilt war, begann Chen, die Leiche zu untersuchen: ein Mann Anfang Vierzig, mittelgroß und von normaler Statur. Er trug einen teuer wirkenden weißen Seidenpyjama. Sein Gesicht war blutverschmiert und wies tiefe Schnittwunden auf, die linke Seite des Schädels war mit einem kraftvollen Schlag eingedrückt worden. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, doch es bedurfte keines medizinischen Fachwissens, um zu sehen, daß er mehr als ein Dutzend Mal mit einer spitzen Waffe, mit Sicherheit schwerer als ein Messer, traktiert worden war. Die Schnittwunden an der Schulter gingen bis auf den Knochen durch. Angesichts der vielen Verwundungen war erstaunlich wenig Blut auf den Boden geflossen.
    Das Pyjamaoberteil hatte nur eine Tasche. Chen griff hinein. Er fand nichts und konnte auch kein Etikett mit einem Markennamen entdecken. Behutsam betastete er Unterkiefer und Hals der Leiche, die nicht mit Blut verschmiert waren. Hier hatte die Starre bereits eingesetzt, aber der übrige Körper war noch relativ weich. Die Beine zeigten eine bläulich-blasse Färbung. Unter dem Druck seines Fingers wurden die violetten Flecken weiß. Der Tod war vermutlich vor vier bis fünf Stunden eingetreten.
    Er zog das Augenlid des Mannes hoch – ein blutunterlaufenes Auge starrte in einen Himmel, der mit Wolken gesprenkelt war. Die Hornhaut war noch nicht opak, was ebenfalls dafür sprach, daß der Mann noch nicht lange tot war.
    Wie kam eine solche Leiche in den Bund-Park?
    Was den Sicherheitsdienst im Park betraf, so war Oberinspektor Chen überzeugt, daß die Beamten und freiwilligen Rentner ihre Abendrunden immer besonders gründlich durchführten. Sie schreckten mit ihren Taschenlampen die Liebespaare in den entlegensten Ecken auf und riefen in ihre Megaphone:
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