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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal
Autoren: Ketil Bjørnstad
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weder Tod noch Leben war.«
    »Was war es dann?«
    »Ein Wartezimmer.«
    »Ein Wartezimmer?«
    »Ein Wartezimmer, in dem ich lag, ohne einen Körperteil bewegen zu können. Nicht einmal die Finger. Ich lag da wie ein Toter, war aber noch am Leben.«
    »Und das Licht?«
    »Da war kein Licht. Das ist totaler Unsinn, daß behauptet wird, wenn man stirbt, sei viel Licht.«
    »Du erinnerst dich so genau?«
    »Ja, es war dunkel. Ganz schwarz. Ein Gefühl, als hätte mich das Wasser im Gehirn eingesperrt, als würde der Tod den Körper Stück für Stück erobern, von den Fingern und Zehen durch die Adern bis direkt zum Herzen.«
    »Was geschah dann?«
    »Ich spürte einen unerwarteten, stechenden Schmerz. Nicht von einem Stein. In meinem Mund war etwas Spitzes, das sich hineingebohrt hatte. Das tat fürchterlich weh.«
    »Du hast nicht begriffen, daß das das Leben selbst war?«
    »Ich spürte plötzlich die Schnur. Erst da wurde mir klar, daß mich jemand geangelt hatte, daß irgendein Idiot dabei war, mich aus dem Wasser zu ziehen.«
    »Du warst wütend?«
    »Ja. Denn ich wollte doch nur zu ihnen .«
Ein Freund in der Not
    Drei Tage vorher:
    Er steigt zu mir in den Krankenwagen. Er legt die Angelrute und alle Blinker auf den Boden. Er ist groß und blaß und viel zu dünn und raucht ständig selbstgedrehte Zigaretten. Er heißt Gabriel Holst. Das sagt er jedenfalls zum Fahrer des Krankenwagens, der ihn lobt, weil es ihm so schnell gelang, das Wasser aus meinen Lungen zu pressen. Er antwortet, daß er sich mit erster Hilfe auskennt. Er ist von der bedächtigen Art. Er redet langsam. Nickt langsam. Ich liege auf der Tragbahre und starre verwirrt zu ihm hinauf.
    »Ich kenne deine Schwester«, sagt er.
    »Woher weißt du das?« sage ich.
    »Cathrine Vinding, richtig? Sie ist die Schwester von Aksel. Bist du nicht Aksel Vinding?«
    »Doch. Was weißt du von mir?«
    »Ich war in deinem Debütkonzert.«
    »Wirklich?«
    »Nicht soviel mit ihm reden«, sagt der Notarzt, der meinen Puls kontrolliert. »Er ist im Schock.«
    »Immer mit der Ruhe«, sagt Gabriel Holst und bläst Rauchkringel in die Luft. »Er atmet jetzt. Er atmet morgen. Das kriegen wir hin.«

    Der Rettungswagen fährt mit Blaulicht, aber ohne Sirene. Gabriel Holst und der Notarzt sitzen neben mir. Gabriel Holst streicht mir ständig über die Stirn. Das irritiert mich. Ich wende mich ab. Dann fehlt mir die Wärme seiner Hand, und ich schiele hinauf zu ihm.
    »Mach jetzt die Augen zu«, sagt er ruhig. »Ruh dich aus.«
    Ich gehorche.
    »Ihr habt ja keine Ahnung«, sage ich.
    »Du bist verzweifelt und wütend. Das ist verständlich. Aber du darfst nicht sterben. Noch nicht. Das ist ein Befehl. Du kannst so wütend werden, wie du willst. Versuch, an etwas anderes zu denken. Hast du schon mal daran gedacht, daß die Musik nur aus zwölf Tönen besteht? Zwölf erbärmlichen Tönen? Das ist alles, was man für Beethovens Neunte Sinfonie braucht oder für ›Stella by Starlight‹.«
    »Ich weiß nicht, was du da redest.«
    »Noch ein Grund, um zu leben«, sagt er. »Stell dir vor, daß wir neunundzwanzig Buchstaben brauchen, um uns auf norwegisch ausdrücken zu können. Stell dir all das vor, was du nicht weißt. Stell dir vor, daß du in diesem Moment nicht einmal weißt, was du im Takt Hundertdreiundfünfzig spielen sollst, welchen der zwölf Töne du genau an der Stelle wählen sollst.«
    »Das ist erschreckend«, sage ich.
    »Es kommt ganz darauf an, welches Stück du spielen willst«, sagt er. »Oder, wenn du Jazzmusiker bist, welche Gefühle und Gedanken du in dem Moment im Kopf hast. Die Zukunft wird es zeigen, also vertrau auf sie.«

    Als der Rettungswagen auf das Gelände des Krankenhauses fährt, erkenne ich die Mauern wieder.
    »Der Puls ist immer noch schwach«, sagt der Notarzt.
    »Es ist nicht lange her, seit ich das letzte Mal hier war«, murmele ich halb bewußtlos.
    »Nicht reden«, sagt Gabriel Holst.
    Sie wollen mich ins Gebäude rollen. Ein neuer Arzt steht bereit, um zu übernehmen. Er wirkt grau und alt und verbraucht.
    »Ich kann selber gehen«, sage ich.
    »Du kannst nicht einmal stehen«, sagt der neue Arzt.
    »Denk an Charlie Parker«, witzelt Gabriel Holst. Er hat oft zwei Stunden vor dem Konzert langgelegen. Manchmal auch mitten im Konzert!«
    »Muß ich heute abend ein Konzert geben?«
    »Man kann nie wissen. Am besten, man hält sich bereit.«

    Ich erkenne das Zimmer wieder, in das man mich rollt. Das kalte, hoffnungslose Licht, die
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