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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal
Autoren: Ketil Bjørnstad
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muß es jedenfalls versuchen. Ich löse die Skier von seinen Füßen. In diesem Moment kommt mir der Gedanke, daß ich sie als eine Art Schlitten benutzen könnte, wenn ich sie an seinem Anorak befestige, so daß die Schultern zu den Skispitzen zeigen. Dann könnte ich ihn an den Armen ziehen.
    Es kommt auf die Spur an, denke ich, während ich die Skier an seinem Skianzug befestige. Ich merke, daß er halb wach ist, daß er etwas murmelt.
    »Hab keine Angst«, sage ich. »Wir schaffen das. Ich werde dich nach Skogfoss zurückschleppen.«
    Da reißt er die Augen auf. Er schaut mich im grellen Licht der Stirnlampe an.
    »Du bist ein guter Mensch«, sagt er.
    Dann wird er wieder ohnmächtig.

    Nein, ich bin kein guter Mensch, denke ich. Ich handle nur. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Wann habe ich das letztemal eine Entscheidung getroffen? Wann habe ich mich nicht nur im Kraftfeld anderer Menschen treiben lassen? Es ist eine Automatik in diesen Gedanken, die mich an all die Stunden allein am Flügel erinnert: daß da eine Arbeit ist, die getan werden muß, und daß es darüber keine Diskussion gibt.

    Dann gehe ich los.
    Eirik Kjosen ist schwerer, als ich dachte. Viel schwerer. Aber dann merke ich, daß der Schnee teilweise verharscht ist. Und im Schein der Stirnlampe sehe ich, daß unsere Spur noch zu erkennen ist. Im Dunkeln hätten wir keine Chance gehabt. Eine kleine Glühbirne hält uns am Leben.
    Zum Glück ist der größte Teil des Weges eben oder leicht abschüssig. Wir müssen zurück nach Pasvikdalen. Ich weiß nicht, wo wir sind und wie viele Kilometer wir zu gehen haben. In der kalten Luft hat sich körniger Schnee auf die Haut gelegt. Aber ich friere nicht mehr. Und wenn ich schnell genug gehe, funktioniert die Schlittenkonstruktion. Wir gleiten dann beide.
    Trotzdem muß ich ziehen. Ich muß beim Ziehen mal den einen, mal den anderen Arm benutzen und auch darauf achten, seine Arme zu wechseln. Damit ich ihm nicht die Schulter auskugele.
    In gleichmäßigen Abständen rufe ich: »Eirik, bist du wach?«
    Meistens antwortet er nicht, manchmal murmelt er etwas.
    Es ist wichtig, daß er wach bleibt. Ich mag nicht singen, nicht schreien. Ich will Worte finden, die ihn aufhorchen lassen. Vielleicht genügt ein einziges Wort.
    »Sigrun«, sage ich.
    Er murmelt etwas.
    »Sigrun und du, ihr müßt miteinander reden«, sage ich. »Sigrun und du, ihr müßt entweder gemeinsam einen Neuanfang finden oder euch trennen. Ist das so schwer zu verstehen?«
    Er murmelt wieder.
    »Vielleicht fühlt sie sich hier im Norden eingesperrt«, sage ich. »Vielleicht ist deine Freiheit nicht ihre Freiheit. Hast du dir das mal überlegt? Vielleicht verschleißt sie sich, weil sie deinen Erwartungen gerecht werden will. Weißt du, was das für ein Gefühl ist, den Erwartungen anderer Menschen gerecht werden zu wollen?«
    Er antwortet nicht. Vielleicht ist er wieder bewußtlos. Aber ich rede weiter.
    »Nicht nur deine Erwartungen«, sage ich. »Aber Gunnar Høeghs Erwartungen, meine Erwartungen, die Erwartungen der Patienten, ihre Erwartungen an sich selbst. Sie hat nie aufgegeben, Musikerin zu werden, wußtest du das? Hast du gemerkt, daß sie immer noch hervorragend Geige spielt? Sie könnte im Herbst debütieren, wenn sie wollte. Sie übt jeden Tag. Aber wie findet sie die Zeit dazu? Alle wollen ja etwas von ihr, der Frau im Tal. Du bist mit dieser Frau verheiratet, und diese Frau steht kurz davor, sich aufzureiben, und du vielleicht auch. Warum habt ihr nie etwas dagegen unternommen? Warum habt ihr es so weit kommen lassen?«
    Er ist wieder wach, er murmelt etwas, während ich ihn hinter mir herziehe. Aber was er murmelt, ist unzusammenhängend, ist eher eine Bestätigung, daß er hört, daß ich mit ihm rede.
    »Du mußt dich wach halten!« rufe ich und packe seine Hand fester. »Denn bald habe ich keine Kraft mehr, mit dir zu reden. Und wenn du jetzt einschläfst, stirbst du vielleicht. Was soll ich dann zu Sigrun sagen? Glaubst du, ich wüßte nicht, wie sehr ihr beide euch ein Kind wünscht? Ihr habt fast alles andere vergessen. Ein Kind könnte euch retten. Eine dritte Person, die es noch nicht gibt. Was wird dann sein, Eirik, wenn das Kind kommt? Was wirst du tun? Was wird sich ändern?«
    Ich rede mit Eirik Kjosen, der halbtot hinter mir liegt, und folge unserer Spur zurück nach Skogfoss. Auf diese Spur konzentriere ich mich. Sie muß uns beide retten, wenn ich anfange, darüber nachzudenken, wie erschöpft ich bin,
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