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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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und sie hatte mit aufgerissenen Augen seine Worte wiederholt.
    Er schlenderte ein wenig herum und zupfte mit den Fingern an seinem Bart, da vernahm er auf einmal deutlich die gequälten Töne eines Menschen, der um seinen letzten Atemzug ringt. Er kannte das, er war dabei gewesen, als Frederick Beckstein gurgelnd in den Tod sank. Der Name war ihm in Erinnerung geblieben, weil es der seines dritten Stiefvaters gewesen war, der ihn den Wert von Geldanlagen gelehrt und ihm in seinem Testament Geld hinterlassen hatte. Ohne Beckstein wäre er womöglich in die lästige
Lage geraten, sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu müssen.
    Er bog ab, folgte dem Geräusch und stolperte fast über eine ausgestreckt daliegende Gestalt. Der Mann drückte seine Hände auf einen grünen Stofffetzen, der an seiner blutbespritzten weißen Hose klebte. Sein Gesicht war so blass wie die silberne Perle in seinem Ohrläppchen. Harold stand da, bis das Keuchen aufhörte, dann wartete er, bis sich sein eigener Atem beruhigt hatte, kniete nieder und legte einen Finger seitlich an die Kehle des Mannes. Dort pulsierte nichts mehr. Als er aufstand, glitt sein linkes Knie zufällig an der weißen Hose entlang, und nun waren seine Shorts rosa verschmiert. Zu seinen Füßen blitzte die Schneide eines Küchenmessers im Sonnenlicht. Er runzelte die Stirn, kickte das Messer ins Unterholz und kehrte zum Campingbus zurück. Neben Rose saß eine Frau mit gefalteten Händen, als betete sie.
    »Sie ist getrampt«, erklärte Rose, »und der Mann, der sie mitgenommen hat, ist über sie hergefallen, deshalb hat sie ihn geschlagen und ist fortgelaufen. Ich hab gesagt, sie kann bei uns mitfahren. Das geht doch, oder?«
    Er nickte, es blieb ihm nichts anderes übrig. Als er das Lenkrad ergriff, sackte die Frau gegen ihn, und der Saum ihres grünen Kleides berührte ganz leicht seine Beine. Er setzte so vehement zurück, dass sie nach vorn kippte. Strähniges, schwarzes Haar fiel ihr über die Knie.

    Laut Rose wollte sie zu ihrem Bruder nach Newport, das waren noch neun Meilen. Sie hatte zwei Brüder, der ältere diente als Soldat in Vietnam. Der, den sie besuchen wollte – sie musste sich Geld leihen  –, hatte von Geburt an nur ein Bein, deshalb war er noch zu Hause. Nein, sie würde weder ihm noch den Bullen erzählen, was geschehen war, denn dann gäbe es nur Fragen, und sie müsste den ganzen Schrecken noch einmal erleben. Außerdem gehörte der Bruder mit dem einen Bein zu jenen Schwachköpfen, die behaupteten, die Frauen seien selbst schuld an sexuellen Übergriffen, die Männer reagierten nur auf Signale. Rose gab ihr recht, sie fand es vernünftig, nichts zu sagen. Als ein Mann sie einmal die Treppe hinuntergestoßen habe, weil sie mit ihm keinen Sex haben wollte, habe sie auch niemandem davon erzählt. Sie habe sich damals am Knie verletzt, nicht schlimm, sei nur ein paar Tage herumgehinkt, aber durch ihre Kindheit habe sie gelernt, Verletzungen nicht zu zeigen und bei Schmerzen lieber zu lächeln, denn Gefühlsäußerungen provozierten nur weitere Angriffe.
    Entsetzt stellte Harold das Radio an, um sie zum Schweigen zu bringen, und hörte, wie eine aufgeregte Stimme über einem Song von Deanna Durbin mit der Nachricht herausplatzte, eine Frau habe auf Andy Warhol geschossen, dreimal. Gehässig fragte Rose, warum die Yankees ständig aufeinander schießen müssten. Ob das daher komme, dass jeder Waffen
besitzen dürfe? Von Warhol hatte sie offenkundig noch nie gehört.
    Dann erhob sich über den Sandstränden des Pazifik Newport mit seinem palmengesäumten Boulevard. Vor zehn Jahren waren er und Dollie hierhergekommen, um einen Kollegen von ihr zu besuchen, der sich angeblich von einem Herzinfarkt erholte; die Reise erwies sich als vergeblich, da der Bursche schon tot war, als sie ankamen. Dollie hatte nicht geweint, sondern sich nur betrunken, aber das war schon in Ordnung, da sie dann immer mit ihm schlafen wollte – obwohl sie es nicht für nötig hielt, sich zu duschen.
    Er fragte die Frau in dem grünen Kleid, wo er hinfahren solle, aber sie beachtete ihn nicht und begann mit Rose zu tuscheln. Die dirigierte ihn daraufhin zu einer Straßenecke mit einer Imbissstube, deren großes Fenster von gelbem Zigarettenqualm beschlagen war. Draußen stand ein Mann mit einem Sombrero und starrte auf ein Kind, das nach einem angeleinten, winselnden Hund trat.
    Rose half der Frau aussteigen und umarmte sie. Deanna Durbin hatte wieder zu singen
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