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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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deinem Bild.« Und der Junge erwiderte: »Das ist der Teich beim Haus meiner Großmutter – und da ist eine Brücke.« Er griff nach einem braunen Stift und sagte: »Ich zeig sie dir.« In aller Ruhe unterhielt sie sich mit dem Kind, doch wichtiger war, dass sie zusah, zuhörte. Sie war präsent.
    Anwesenheit stärkt das Selbstvertrauen eines Kindes, da es dem Kind zu verstehen gibt: Ich bin es wert, dass man über mich nachdenkt. Ohne diesen Eindruck könnte das Kind glauben, sein Tun sei nur Mittel zum Zweck, ein Mittel, um Lob zu erhalten, statt den Selbstzweck in sich zu tragen. Wie können wir erwarten, dass ein Kind aufmerksam ist, wenn wir ihm selbst keine Aufmerksamkeit schenken?
    Anwesend zu sein, ob nun bei Kindern, bei Freunden oder bei sich selbst, ist immer anstrengend. Aber ist uns diese Anwesenheit, diese Aufmerksamkeit – das Gefühl, dass sich jemand die Mühe macht, an uns zu denken – nicht lieber als jedes Lob?

Schmerz als Geschenk
    Anfang Juni rief mich eines Tages Mr N. an, da Matt, sein einundzwanzigjähriger Sohn, wenige Wochen zuvor mit einer ungeladenen Startpistole auf einen Polizisten gezielt hatte, der ihn wegen ordnungswidrigen Verhaltens festnehmen wollte. Matt wurde wegen schweren Waffenvergehens verurteilt und auf Bewährung entlassen, verhielt sich aber weiterhin ziemlich uneinsichtig. Im Verstoß gegen seine Bewährungsauflagen trank er bis spät nachts mit seinen Freunden und kam manchmal tagelang nicht nach Hause. Er geriet in Prügeleien. Seine Eltern, beide Lehrer, begannen sich damit abzufinden, dass Matt wohl im Gefängnis landen würde.
    Matts Eltern hatten ihn adoptiert, als er zwei Jahre alt war, und Matts Vater erzählte, was er über das frühere Leben des Jungen wusste: Kurz nach der Geburt zog Matts siebzehnjährige, leibliche Mutter aus dem Haus ihrer Eltern aus, um erst in einer Notunterkunft Zuflucht zu suchen und danach von Bleibe zu Bleibe zu ziehen. Die Mutter war drogenabhängig und unfähig, sich um ein Baby zu kümmern, weshalb Matt unterernährt und krank war, als man ihn in Pflege nahm. Er verbrachte einige Zeit in diversen Heimen, ehe er von Mr N. und dessen Frau adoptiert wurde. Matt erwies sich schon früh als ein schwieriges, kompromissloses Kind, was dazu führte, dass seine Eltern sich dagegen entschieden, weitere Kinder zu adoptieren.
    Einige Tage später kam Matt in meine Sprechstunde. Er warf sich mir gegenüber in einen Sessel und begann, ziemlich offen über einige seiner Probleme zu reden. Er erzählte von zwei Typen, zwei Brüdern, die in der Nachbarschaft wohnten und es auf ihn abgesehen hatten, gefährliche Männer, die einen seiner Bekannten erstochen hatten. Matts Lage war alarmierend, doch noch während er redete, merkte ich, dass es mir schwerfiel, sie tatsächlich alarmierend zu finden. An seinen Worten war nichts auszusetzen, er redete klar und mit Nachdruck, trotzdem gelang es mir kaum, mich auf seine Geschichte einzulassen. Allzu leicht ließ ich mich vom Straßenlärm außerhalb des Behandlungszimmers ablenken und ertappte mich dabei, wie ich an einige Besorgungen dachte, die ich während der Mittagspause erledigen wollte. Jeder Versuch, an Matts Geschichte zu denken, seinen Worten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, war, als versuchte ich in einem Traum, bergauf zu laufen.
    Eine derartige Kluft zwischen dem, was jemand sagt und dem, was dies an Gefühlen auslöst, ist gar nicht so selten – man denke nur an den Freund, der anruft, wenn man selbst niedergeschlagen ist und dessen ermutigende, gutgemeinte Worte doch nur bewirken, dass man sich noch schlechter fühlt. Die Distanz zwischen Matts Worten und dem, was ich dabei empfand, war enorm. Er beschrieb ein beängstigendes Leben, dennoch hatte ich keine Angst um ihn. Was er sagte, ließ mich seltsam kalt.
    In dem Versuch, meine Gleichgültigkeit gegenüber Matt und dessen Lage zu verstehen, stellte ich mir einige Szenen aus seiner ersten Lebenszeit vor. Ich sah ein weinendes Baby – ich bin hungrig, füttere mich; meine Windel ist nass, wechsle sie; ich habe Angst, halte mich –, ein kleines Kind, das von einer teilnahmslosen Mutter ignoriert wird. Ich fragte mich, ob es nicht an Matts frühen Erfahrungen liegen könnte, dass er nicht wusste, wie man es schafft, dass sich jemand um einen sorgt, da er dies von seiner Mutter nie gelernt hat. Ihm schien jene Fähigkeit zu fehlen, die wir alle brauchen: die Fähigkeit, in einem anderen Menschen Sorge um uns zu
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