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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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wecken.
    Und was fühlte Matt? Ihm schien seine Lage selbst auch gleichgültig zu sein. Als ich ihn fragte, wie er es fand, verhaftet zu werden, sagte er: »War okay. Wieso?« Ich versuchte es noch einmal. »Sie wirken nicht so, als hätten Sie sich große Sorgen gemacht«, sagte ich, »dabei hätten Sie erschossen werden können.« Er zuckte mit den Achseln.
    Allmählich begriff ich, dass Matt die eigenen Gefühle nicht spürte. Im Verlauf unseres zweistündigen Gesprächs schien er entweder meine Beschreibungen seiner Gefühle zu übernehmen oder seine Gefühle vom Verhalten anderer Leute abzuleiten. So sagte er etwa, dass er nicht wisse, warum er mit der Pistole auf den Polizisten gezielt hatte. Ich deutete an, dass er vielleicht wütend gewesen war. »Genau, ich war wütend«, erwiderte Matt. »Und was haben Sie gefühlt, als Sie wütend waren?«, fragte ich. »Wissen Sie, die Polizei war ziemlich wütend auf mich. Und meine Eltern waren sehr wütend auf mich. Alle waren wütend auf mich«, erwiderte er. »Aber was haben Sie gefühlt?«, hakte ich nach. »Sie haben mich alle angeschrien«, antwortete er.
    Meist ist es das unmittelbar empfundene Leid, das jemanden zu mir in die Sprechstunde führt. In diesem Fall aber hatte nicht Matt, sondern sein Vater angerufen und um ein Gespräch gebeten. Matt hatte sehr früh gelernt, seine Gefühle zu betäuben und all denen zu misstrauen, die ihm Hilfe anboten. Unsere Begegnung bildete keine Ausnahme. Für Matt war der emotionale Schmerz einfach nicht stark genug, um seine Bedenken zu überwinden und meine Einladung zur Hilfe anzunehmen.
    Während seiner Arbeit in einem Leprahospital entdeckte der Arzt Paul Brand 1946, dass die Entstellungen, die mit Lepra einhergehen, kein immanenter Bestandteil der Krankheit sind, sondern vielmehr Folge von Infektionen und Verletzungen, zu denen es kommt, weil der Patient keinen Schmerz empfinden kann. 1972 schrieb er: »Könnte ich den Leprakranken ein Geschenk machen, würde ich ihnen den Schmerz schenken.« Matt litt an einer Art psychologischer Lepra; unfähig, den eigenen emotionalen Schmerz zu fühlen, lebte er für immer in der Gefahr, sich dauerhaften, vielleicht gar tödlichen Schaden zuzufügen.
    Sobald Matt die Praxis verlassen hatte und noch ehe ich mir meine Notizen machte, tat ich etwas, was ich mir nach schwierigen, aufwühlenden Konsultationen manchmal gönne. Ich ging um die Ecke, kaufte mir einen Kaffee zum Mitnehmen und kehrte in die Praxis zurück, um mich zu entspannen und irgendwelchen Unsinn im Internet zu lesen. Das eigentliche Problem ist nämlich folgendes: In jedem von uns steckt ein bisschen von Matt. Dann und wann versuchen wir alle, schmerzhafte Gefühle zu unterdrücken. Doch wenn es uns gelingt, nichts mehr zu spüren, haben wir die einzige Möglichkeit verloren, je herauszufinden, was uns verletzt und warum.

Ein sicheres Versteck
    »Einen Moment«, sagte er, »ich habe vergessen, das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür zu hängen.«
    Ich höre, wie mein Patient den Apparat beiseitelegt, durchs Zimmer geht und eine Tür öffnet und wieder schließt. Als er mit gedämpften Schritten zurückkommt, stelle ich ihn mir in seinem Hotelzimmer vor und rechne mir dann aus, wie spät es in Brüssel ist – früher Abend, viertel vor sechs.
    Er greift wieder nach dem Telefon. »Tut mir leid. Das hätte ich tun sollen, ehe ich Sie anrief. Ich habe an was anderes gedacht.«
    Ich höre, wie er einen Schluck Tee oder Kaffee nimmt und die Tasse wieder auf die Untertasse stellt.
    »Wissen Sie, was ein Safe House ist?«, fragt er und erzählt mir dann, er hätte auf BBC eine Sendung über Amerikaner gesehen, die sich einen Schutzraum oder gar ein Deluxe-Safe-House bauen. »Sie können sich den abfälligen, anti-amerikanischen Ton der Sendung vorstellen: ›Jetzt sieh sich einer an, wofür diese abgedrehten Amerikaner neuerdings ihr Geld ausgeben.‹ Bloß hatten die Bilder auf mich eine ganz andere Wirkung, als es von den Machern der Sendung offenbar beabsichtigt war. Ich fühlte mich zutiefst aufgewühlt.
    Eine Szene ergriff mich besonders – ein Vater saß mit seinem Sohn, einem Jungen im Teenageralter, auf dem Boden im elterlichen Schlafzimmer. Der Vater zeigte dem Jungen ein paar Dinge, die er in einem Schuhkarton unterm Bett aufbewahrte, darunter einen Satz Wasserfilter, ein batteriebetriebenes Funkgerät mit mehreren Kanälen sowie eine Rolle Angelschnur. Er erzählte seinem Sohn, dass es nach der Apokalypse
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