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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria
Autoren: Anne Perry
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gegen ihn gestellt, ihn kein einziges Mal derart herausgefordert. Er wusste nur allzu genau, wie sehr er von ihm abhing, nicht nur, was seine Arbeit beim Sicherheitsdienst betraf – er war auch auf Anleitung und Schutz angewiesen, während er sich allmählich in seine neue Aufgabe einarbeitete. Aber die Gefühle, die jetzt in ihm tobten, rissen alle Erwägungen dieser Art mit sich fort.
    »Drinnen!«, sagte er barsch.
    Narraways Züge verhärteten sich. »Ich hoffe um Ihretwillen, dass es wichtig ist, Pitt«, sagte er, wieder ganz Herr der Lage. Die stählerne Kälte war in seine Augen zurückgekehrt.
    »Das ist es«, presste Pitt zwischen den Zähnen hervor. Vielleicht wäre es klüger gewesen, trotz des kalten Windes und des feinen Nieselregens alles, was er zu sagen hatte, vor der Haustür zu sagen. Das ging ihm auf, während er Narraway ins Haus folgte und hörte, wie die Tür sich hinter ihnen schloss. Im Arbeitszimmer angekommen, drehte sich Narraway um und fragte: »Nun? Sie haben zehn Minuten. Danach gehe ich, ob Sie fertig sind oder nicht. Die Verhandlung
fängt um zehn Uhr an. Ich gedenke, pünktlich da zu sein.« Im Morgenlicht, das durch das große Fenster hereinfiel, wirkte sein Gesicht aschfahl. Um die Augen und den Mund herum sah man die Fältchen, die Schlafmangel und die seelische Anspannung hineingegraben hatten.
    »Aber der ganz besondere neue Zeuge ist doch tot«, gab Pitt zu bedenken. »Jetzt braucht man mit Enthüllungen über Ayesha Sacharis Motiv nicht mehr zu rechnen. Der Selbstmord des Dieners ist beinahe so gut wie ein Geständnis.« Er blieb vor der Tür stehen, als wolle er Narraway den Ausgang versperren.
    »Ja, beinahe«, knurrte Narraway. »Trotzdem möchte ich den Freispruch mit eigenen Ohren hören. Also schießen Sie schon los.«
    »Was glauben Sie, warum sich El Abd das Leben genommen hat?«, fragte Pitt. Er wäre lieber anderswo gewesen als ausgerechnet dort, hätte lieber etwas anderes getan als das, was er jetzt tat. »Er hatte den Erfolg doch greifbar vor sich.«
    »Wir wissen, dass er schuldig war«, sagte Narraway, aber in seiner Stimme lag ein winziges Zögern. Vielleicht hätte es niemand außer Pitt gehört.
    Pitt sah ihn fest an. »Und mit einem Mal hatte er Angst? Wovor? Dass man ihn auf dem Weg in den Gerichtssaal festnehmen und an der Aussage hindern würde?«
    Narraway atmete betont langsam ein und aus. »Worauf wollen Sie hinaus, Pitt? Wir haben keine Zeit für Spielchen.«
    Wenn er es jetzt nicht sagte, wäre der Augenblick vorüber, und er müsste für alle Zeiten mit dem Zweifel leben.
    »Für uns ist diese Lösung äußerst praktisch«, erwiderte er. »Vermutlich hat das Suez gerettet.« Er hielt Narraways Blick ohne die geringste Unsicherheit stand.
    Narrawaywar sehr bleich. »Vermutlich«, stimmte er zu. Wieder lief ein Schatten über sein Gesicht.
    »Warum hätte der Mann so handeln sollen?«, fragte Pitt.
    »Ich weiß nicht. Es ergibt keinen Sinn«, räumte Narraway ein, der nach wie vor reglos in der Mitte des Raumes stand.
    »Wenn ich ihn ...«, sagte Pitt, »oder Sie ...«
    Der letzte Tropfen Blut verschwand aus Narraways Gesicht, sodass seine Haut aussah wie graues Papier. »Gott im Himmel! Sie glauben doch nicht etwa, dass ich El Abd umgebracht habe?«
    »Und, waren Sie es?«
    »Nein«, sagte Narraway rasch. Er stellte Pitt die Gegenfrage nicht. Ihm war klar, dass er seine Frage ernst gemeint hatte und es ihm äußerst schwer gefallen war, sie zu stellen. Der Zweifel, der in ihm nagte, hatte ihn zu sprechen veranlasst. »Sind Sie denn sicher, dass man ihn ermordet hat?«
    »Nicht hundertprozentig. Aber ich denke schon«, gab Pitt zurück. »Die Tat ist mit, nun, mit außergewöhnlichem Geschick durchgeführt worden, sodass sich unmöglich sagen lässt, ob er die Verletzungen unmittelbar vor dem Eintritt des Todes oder gleich danach erlitten hat ... Die Ursache kann ebenso gut eine Misshandlung gewesen sein wie ein zufälliges Anstoßen, als er fiel, oder der Anprall eines Bootes, dem er in die Quere kam. Es lässt sich nichts beweisen.«
    Wieder legte sich der Schatten auf Narraways Züge. »Wer hätte ihn umbringen sollen, und warum?«
    »Jemand, dem das Massaker bekannt ist«, sagte Pitt, »und der bereit ist, alles zu tun, damit die Wahrheit mit allen Folgen, die das mit sich bringen würde, nicht ans Licht kommt. Daher ist er nicht vor einem Mord zurückgeschreckt, und er hätte auch zugelassen, dass man Ryerson hängt.«
    Narraway war
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