Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
der Terrassenmauer, an der sie gestanden hatte, und begann, hin und her zu gehen. Der Mann war nicht zu erschüttern. Er war längst wieder ruhig und gelassen.
    Karen fühlte kalte Wut in sich hochsteigen. Nicht auf Ruben Berg, den man beim BKA eingestellt hatte, obwohl jeder Hobbypsychologe hätte erkennen können, daß der Junge den Tod des Vaters nie verwunden hatte. Sie war wütend auf das System, das dem Mörder vor ihr einen Freibrief erteilt hatte. Ruben Berg hatte völlig recht. Niemand würde hören wollen, wenn sie erzählte, was sie zu wissen glaubte.
    Karen versuchte, den Gedanken zu erwischen, der vorhin aufgeblitzt war, bevor sie ihn richtig hatte erfassen können. Was hatte Berg noch gesagt über seinen Vater? Er hatte seinem Mörder nicht in die Augen geblickt, er hatte hilflos die Hände vors Gesicht geschlagen. Was richtet so etwas an bei einem Jungen im kritischen Alter? Hatte er sich womöglich für seinen Vater geschämt? Hatte er sich deshalb eingebildet, er müsse nicht nur seinen Vater rächen, sondern auch noch das Gegenprogramm verkörpern – den starken Mann, der niemals wehrlos ist? Wie wird ein Junge damit fertig – allein?
    »Ihre Mutter«, sagte Karen. »Wie ist Ihre Mutter mit dem Tod ihres Mannes umgegangen? Hat sie von Rache gesprochen?«
    »Die?«
    Alles lag in dieser Antwort. Abwehr, Verachtung, Enttäuschung.
    »Die hat nur geweint, von morgens bis abends.
    Wochenlang. Wollte nicht mehr leben. Konnte nicht mehr leben.« Seine Stimme war leise geworden. »Sie war noch nicht einmal mehr in der Lage, das bißchen Haushalt zu erledigen.«
    Das hat wahrscheinlich der Junge gemacht, dachte Karen. Auch das noch.
    »Wenn ich einen Satz hasse, dann ist das der, den ich zu Hause jeden Tag mindestens zwanzigmal zu hören bekam.«
    Berg atmete tief aus.
    »Man kann ja doch nichts machen.«
    Dorothea spürte, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. »Was willst du machen«, hatte ihre Mutter am nächsten Tag immer gesagt. Als ob sie nicht am Abend zuvor geschrien und gebettelt hätte. »Da kannst du gar nichts machen.« Aber die kleine Dorothee wollte etwas tun.
    »Ich hab alles gesehen!« hatte sie eines Abends geschrien. Sie war noch keine zehn Jahre alt gewesen. »Ich geh zur Polizei! Die holen dich ab!«
    Plötzlich sah sie das Gesicht ihres Vaters vor sich, verzerrt, gerötet, grinsend. Der Alte guckte sie an, schrie: » Was hast du gesehen?«, packte sie am Zopf und zog ihren Kopf nach hinten, bis sie glaubte, ihr würde das Rückgrat brechen. Dann ließ er sie so abrupt wieder los, daß sie zu Boden fiel. Und Mutter? Mutter stand daneben und weinte lautlos, auf diese hilflose, demütige Weise.
    »Er meint es doch nicht so«, schluchzte sie. »Es ist doch gar nichts passiert.«
    Sie hatte sich so unendlich geschämt. Für Mutter. Für sich selbst. Für alles. Dorothea spürte an ihrer zitternden Hand, daß sie die Pistole noch immer umklammert hielt, als ob sie sich an ihr festhalten könnte.
    »Und Sie wollten alles ganz anders machen.« Karen debattierte in ihrem Inneren, was sie schlimmer fand: Ruben Berg oder all jene, die ihre Fürsorgepflicht ihm gegenüber verletzt hatten. War so etwas möglich, daß wirklich niemand wahrnehmen wollte, daß der junge Mann an dem fast zerbrochen war, was er als seine Sohnespflicht ansah?
    »Aber glauben Sie wirklich, daß Ihnen niemand auf die Schliche kommt? Beim BKA müßte man dümmer sein, als die Polizei erlaubt, wenn man in Anbetracht der Wahl der Waffen nicht auf die Idee käme, daß hier ein Insider im Spiel ist.«
    Die Wolken am Himmel hatten eine gelbe Färbung angenommen.
    Berg schnaubte verächtlich. »Was glauben Sie, was in dem Saftladen alles verschwindet? Wie viele Kokainbeutel vertickt, wieviel Knarren und Munition auf dem Schwarzmarkt landen? Außerdem habe ich mich abgesichert. Im Computersystem finden Sie keine Spur.«
    Nein – aber in Steiners Kopf.
    »Und selbst wenn: Glauben Sie, auch nur irgend jemand ist daran interessiert, daß an die große Glocke gehängt wird, welche Lücken unser unschlagbares System aufweist? Mit so jemandem wie Ihnen war natürlich nicht zu rechnen.« Berg lachte auf.
    Der Mann hat recht, dachte Karen. Alle schützen den Mörder – aus Eigeninteresse. »Und Alexa?« fragte sie leise.
    Sie sah, wie sich das Gesicht vor ihr veränderte. Das fahle Licht grub tiefe Linien in die Stirn des Mannes. Karen spürte, wie ein Lufthauch über die Terrasse strich.
    »Alexa…«, sagte Berg und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher