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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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Farbe,Ton und Form auszuloten. Cézanne soll auch gesagt haben: »Nach der Natur sehen heißt das Eigentümliche seines Modells herausfinden. Malen heißt nicht, den Gegenstand sklavisch kopieren: Malen heißt eine Harmonie zwischen zahlreichen Verhältnissen erfassen«. 149 Diese Harmonien und Verhältnisse dürfte jeder Künstler auf seine ganz eigene Art und Weise erfassen. Vergleichen wir Cézannes Gemälde mit Renoirs Behandlung eines ähnlichen Motivs (Abb. 84), das etwa zeitgleich entstanden ist. Renoirs Äpfel wirken weicher als Cézannes und sind nicht so stark im Relief herausgebildet, weil er sie auf seine Weise sah und malte.
    (83)  Stillleben mit Quitte, Äpfeln und Birnen . Paul Cézanne, um 1885–1887.
    (84)  Äpfel und Birnen . Pierre-Auguste Renoir, um 1885–1890.
    Auch Wissenschaftler porträtieren Äpfel unterschiedlich. Die Äpfel der Physik kommen in mehreren Varianten vor. Da ist Newtons Apfel, der nach dem Gravitätsgesetz fällt, und Einsteins relativistische Version im Raum-Zeit-Kontinuum. Außerdem ist da noch derApfel der Quantenmechanik, der aus sehr vielen Teilchen besteht, welche sich seltsam sprunghaft verhalten, wenn wir sie aus großer Nähe betrachten. Und dann die verschiedenen Äpfel aus der Formel des Lebens: der Apfel, der in vielen Generationen per natürlicher Selektion geformt wurde; der Apfelbaum, der sich aus einem kleinen Kern entwickelt; und der Apfel, den wir dank unserer neuronalen Rahmenkonstruktionen zu beurteilen lernen.
    Alle diese Äpfel sind miteinander verbunden. Der evolutionäre Apfel begründet sich in der Physik: Organismen und ihre Umwelt bestehen aus Materie und unterliegen den physikalischen Gesetzen. Der sich entwickelnde Apfel wurzelt in der Evolution, denn erst aus der Geschichte des differenziellen Reproduktionserfolgs ergab sich die Entwicklung eines Apfels aus einem Kern. Der Apfel, den wir sehen können, beruht ebenfalls auf all diesen Vorläufern, weil unsere Interpretation davon abhängt, wie unser Gehirn in der Evolution entstanden ist, sich entwickelt und lernt. Und schließlich haben wirCézannes Apfel, ein Produkt der Kultur und damit eingebettet in alles andere.
    Es verlaufen aber auch Verbindungen in die andere Richtung, vom kulturellen Apfel zurück zu den anderen. Unsere Kultur einschließlich unserer wissenschaftlichen Ansichten liefert die Rahmenkonstruktion, durch die wir die Welt betrachten. Das heißt, dass wir unsere Weltsicht nicht vollständig auf der Physik begründen können, weil wir für jede Beschreibung der physikalischen Welt von einer bestimmten kulturellen Rahmenkonstruktion ausgehen. Genauso wenig können wir unsere Weltsicht vollständig auf der Kultur begründen, weil unsere Ansichten nicht frei herumschweben, sondern in unserer speziellen Evolution, unserer biologischen Entwicklung und unserem Lernen eingebettet sind. Statt einer linearen Geschichte mit einfachem Anfang haben wir es mit einer bidirektionalen Beziehung zu tun, bei der Rahmenkonstruktionen und das, was sie umrahmen, voneinander abhängen. Es mag unbefriedigend wirken, dass wir keinen absoluten Startpunkt definieren können. Vielleicht liegt das auch an einem anderen Merkmal unseres kulturellen Erbes. Wir mögen es wohl, wenn Geschichten einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Aber so sind die Welt und unser Platz in ihr eben nicht strukturiert.
    Die gegenseitige Abhängigkeit von Rahmenkonstruktionen und dem, was sie umrahmen, hat nicht erst beim Menschen begonnen. Jeden Einzeller kann man sich als eine Rahmenkonstruktion vorstellen, die die Verhältnisse ihrer Umwelt erfasst. Die einzellige Alge Chlamydomonas besitzt RuBisCO-Proteine, die genau zur Form von Kohlendioxidmolekülen passen, so dass sie Kohlenstoff fixieren kann. Außerdem besitzt sie Geißeln und eine Reaktionsfähigkeit, die sie aufs Licht zuschwimmen lassen. Damit hat sich die Mikrobe an bestimmte Aspekte ihrer Welt angepasst. Beide passen in Bezug auf diese Aspekte jetzt zusammen; das liegt daran, dass zwischen Organismus und Umwelt eine ständige bidirektionale Beeinflussung stattfindet. Organismen umrahmen ihre Umwelt auf ihre Weise, und durch Rückkopplung beeinflusst die Umwelt, welche Rahmen durch natürliche Selektion gefördert werden. Die Reise der Populationen durch den genetischen Raum ist mit der jeweiligen Umwelt eng verkoppelt. Über diesen Prozess hat sich in der Evolution jede Art mit einer eigenen Merkmalskonstellation herausgebildet und erfasstdamit auf
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