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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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individuelle Weise Bezüge in ihrer Umwelt, so wie jeder Künstler seinen eigenen Blick auf die Welt besitzt. Dieses Ineinandergreifen von Organismus und Umwelt, von Rahmen und Umrahmtem, ist in der Evolution entstanden, der ersten Instanz für unsere Formel des Lebens.
    Weitere Rahmenkonstruktionen ergaben sich, als die Evolution die biologische Entwicklung hervorbrachte, die zweite Instanz für die Formel des Lebens. Mehrzellige Organismen konnten Aspekte ihrer Umwelt in größerem Maßstab erfassen. Blasentang kann die Meeresbewegung wahrnehmen, die Schwerkraft und den Winkel des einfallenden Lichts, indem er zu einer bestimmten Form aus verschiedenen Zelltypen heranwächst – er zerlegt die Welt, indem er sich selbst zerlegt. Organismen erfassen aber nicht nur räumliche Verhältnisse, sondern auch zeitliche Muster. Eine krautige Pflanze blüht je nach Tageslänge, das Blatt einer Venusfliegenfalle schließt sich, wenn ein Insekt darüber krabbelt, und eine Meeresschnecke ignoriert uns, wenn wir sie wiederholt berühren. Die Reisen der Embryonen durch den Entwicklungsraum haben sich aus der Evolution ergeben und sind eng mit ihrem Umfeld verbunden. Jedes mehrzellige Lebewesen, ob Pflanze oder Tier, erstellt ein bestimmtes Porträt der Welt, das sich aus Evolution und biologischer Entwicklung ergeben hat.
    Besonders raffiniert ausgearbeitet sind die Reaktionen auf die Umwelt bei Tieren, die ihre Erfahrungen durch ihre eigenen Bewegungen ständig verändern. Viele dieser Geschöpfe besitzen Nervensysteme und Gehirne, mit denen sie aus der Ereignisfolge, der sie begegnen, lernen. Sie können vorhersagen, was sie für Belohnungen oder Strafen zu erwarten haben, und ihre Handlungen dementsprechend modifizieren. Sie lernen ihre Handlungen in Abhängigkeit von deren Auswirkungen zu kalibrieren und damit in der Welt effizienter zu bestehen. Indem sie die Welt erkunden und austesten, verankern sie sich selbst in ihr und umrahmen zugleich sich selbst und ihre Umwelt. Und indem sie unentwegt Diskrepanzen lösen und darauf aufbauen, entwickeln sie allmählich neue Perspektiven auf die Welt, neue Rahmenkonstruktionen, die das erfassen, wovon sie umgeben sind. Lernen ist eine weitere Möglichkeit, die Welt zu zerlegen, indem neuronale Rahmenkonstruktionen je nach den gemachten Erfahrungen modifiziert werden.
    Die wechselseitige Abhängigkeit von Rahmenkonstruktion undUmrahmtem ist nicht auf die Kultur beschränkt; sie findet sich in allen Instanzen der Formel des Lebens. Durch Evolution, biologische Entwicklung und Lernen ordnet sich Materie in so genannten Organismen an, die Beziehungen zwischen der Materie in ihrer Umwelt (einschließlich anderer Organismen) erfassen. Organismen sind Materie, die sich selbst umrahmt. Die Formel des Lebens liefert die Grundprinzipien, nach denen es zu dieser Selbstumrahmung kommt. Sie ist eine Formel zur Selbstbeschreibung, eine Formel, gemäß der sich die Welt auf vielfache Weise selbst abbildet. In menschlichen Gesellschaften wurde die Selbstdarstellung auf eine neue Ebene gehoben, auf der Organismen über ihren eigenen Ursprungund ihren Platz in der Natur nachdenken. Dieses Selbstporträt spiegelt einige unserer eigenen Besonderheiten als Menschen wider. Das Bild, das da porträtiert wird, ist aber nicht willkürlich, genauso wenig wie ein Selbstporträt von Rembrandt eine willkürliche Anhäufung von Pinselstrichen ist. In Wirklichkeit verhält es sich eher wie in einer Lithografie von M.C. Escher, auf der ein Mann ein Bild betrachtet, von dem er selbst ein Teil ist (Abb. 85). Wie Eschers Mann können wir nie aus unserem Bild heraustreten; wir können es aber sehr wohl betrachten und die faszinierende Welt zu verstehen versuchen, von der wir selbst ein untrennbarer Teil sind.
    (85)  Druck-Galerie . M.C. Escher, 1956.

A NHANG

DANK
    Ein Baumstamm ist zu Beginn nicht kahl, sondern wird es erst dadurch, dass er viele Äste abwirft. Das klingt nach Verschwendung – warum produziert er erst Äste, nur um sie dann wieder loszuwerden? Diese Äste haben aber eine entscheidende Aufgabe für den Jungbaum, weil sie es ihm ermöglichen, Energie zu speichern und zu wachsen. Erst wenn der Baum eine gewisse Größe erreicht hat, liegen die unteren Äste mehr und mehr im Schatten und werden verzichtbar. Ähnlich war es bei diesem Buch: Während seiner Entstehung mussten viele Wörter und Seiten abgeworfen werden. Es ist nur wenig übrig von den ersten Entwürfen, und doch spielten sie eine
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