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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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indem wir Kontakt mit Dingen, die uns töten würden, vermeiden. Den direktesten Zugang zum Kontakt verschafft uns unser Tastsinn. Wenn wir etwas berühren, spüren wir, dass es wirklich ist, weil der Kontakt uns wirklichen Schaden zufügt oder wirklich gut tut. Sinne wie der Sehsinn wirken indirekter. Wir können durch Sehen nicht essen oder uns fortpflanzen. Der Sehsinn ist nur insofern bedeutsam, als er uns dabei unterstützt, bestimmte Kontakte zu fördern oder zu vermeiden. Das Sehen hilft uns vielleicht, mit Nahrung oder einem Geschlechtspartner in Kontakt zu kommen oder Kontakt zu einem Raubtier zu meiden. Deshalb hat für uns bei der Beurteilung der Wirklichkeit, bei dem, was wirklich zählt, tendenziell der Tastsinn das letzte Wort; das Sehen dagegen ist von sekundärer Bedeutung. Würden wir leben wie Pflanzen, wäre das vielleicht anders. Dann hätte nämlich die Frage, wie stark wir dem Licht ausgesetzt sind, ganz direkte Auswirkungen auf unsere Überlebensfähigkeit, weil wir für die Ernährung mittels Photosynthese direkt davon abhängig wären; visuelle Eigenschaften könnten uns dann als grundlegender erscheinen.
    Einige Aspekte des Sehens, etwa die Form eines Objekts, korrelieren stark mit der Berührung: Wir können sowohl sehen als auch spüren, dass ein Apfel rund ist. Diese gemeinsamen Aspekte tragen dazu bei, dass wir in drei Dimensionen denken. Seh- und Tastsinn überzeugen uns gemeinsam davon, dass drei Dimensionen genügen, um die Ausdehnung eines Gegenstands zu beschreiben. Visuelle Aspekte, die mit der Berührung nicht korrelieren, sind nicht Teil dieser Beschreibung. Die Farbe eines Apfels ist nicht direkt relevant dafür, wie er sich anfühlt, und daher sind unsere drei Dimensionen farblos (und aus ähnlichen Gründen auch geruch- und geräuschlos).
    Um vier Dimensionen darzustellen, müssen wir eine zusätzliche Qualität in die Erfahrung von Kontakt einbauen. Als Beispiel wähle ich hier die Farbe. Ich möchte Ihnen die Regenbogenwelt vorstellen. Die Regenbogenwelt ist wie unsere, nur hat jedes Objekt eine einzige Farbe (genau gesagt ein Farbintervall) irgendwo im sichtbaren Spektrum. Manche Objekte sind rot, andere gelb und so weiter. Die bizarrste Eigenschaft der Regenbogenwelt ist die, dass ihre Gegenstände nur dann zusammenstoßen, wenn sie dieselbe Farbe haben. Ein roter Mensch kann also an einen roten Tisch stoßen, durch einen orangefarbenen aber hindurchgehen. Der rote Mensch kann per Kontakt nur rote Dinge spüren, obwohl er andersfarbige Objekte durchaus auch sehen kann. Und das gilt sowohl im Hellen als auch im Dunklen. Ein roter Mensch stößt auch im Dunklen noch an einen roten Tisch; er könnte dann nur nicht sehen, dass dieser rot ist. Ein weiteres Merkmal der Regenbogenwelt ist, dass Menschen und andere Tiere ihre Farbe verändern können. Möchte ein roter Mensch also nicht an einen roten Tisch stoßen, dann kann er entweder außenherum gehen oder seine Farbe zu Orange wechseln und hindurchgehen.
    Hätte unsere Evolution in der Regenbogenwelt stattgefunden, so wären wir wahrscheinlich ganz von selbst der Auffassung, Objekte hätten vier Dimensionen. Das wären die drei Dimensionen der räumlichen Ausdehnung und die vierte Dimension Farbe. Wir würden uns daran gewöhnen, uns sowohl im Ausdehnungs- als auch im Farbraum zu bewegen, um Nahrung und Geschlechtspartner zu finden. Um einen Apfel zu essen, müssten wir uns nicht nur darauf zubewegen, sondern auch unsere Farbe daran anpassen. Und wollten wir einem Raubtier entkommen, hätten wir außer dem Weglaufen noch die Option, die Farbe zu wechseln. Natürlich würde das Raubtier dann wiederum seine Farbe unserer anpassen und uns durch den Farbraum genauso verfolgen wie im Ausdehnungsraum. Unser Gehirn würde Spezialist im vierdimensionalen Denken werden.
    Man könnte denken, die Farbe verhielte sich hier wie die Zeit, die wir ja manchmal als eigene Dimension bezeichnen. Zeit ist aber insofern etwas anderes, als wir sie aus eigener Kraft nicht so verändern können, dass wir die Folgen davon zu spüren bekommen. Natürlich können wir durch die Erinnerung in der Zeit zurückreisen. Dabei aber kollidieren wir nicht mit den Objekten, an die wir uns erinnern. Wüssten wir, dass einmal jemand an der Stelle gesessen hat, wo wir jetzt sitzen, dann krachen wir durch die Erinnerung daran nicht mechanisch gegen ihn. Die Regenbogenwelt dagegen ist genuin vierdimensional, weil wir die Farbe wechseln und die Folgen daraus erfahren
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