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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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goldener Schein um seinen Kopf, weshalb es so aussah, als sei dieser Kopf jetzt wirklich verschwunden, und vielleicht war es auch so. Erst als ich einen Schritt zur Seite trat, sah ich ihn wieder.
    »Ich brach frühmorgens an der durchwatbaren Stelle des Himmels auf, und abends kam ich zur westlichen Grenze der Welt …«, deklamierte Professor Deng, und als ich ihn fragend ansah: »Auch von Qu Yuan. Die Zeit der Geister vergeht bei uns viel schneller als die normale Zeit, das ist bei Ihnen doch auch so? Er ist ein großer Dichter, im nächsten Leben müssen Sie ihn doch mal studieren. In den ersten Zeilen seines langen Gedichts erzählt er, daß er von den Göttern abstammt, am Ende sagt er, daß er diese korrupte Welt jetzt verläßt, um die Gesellschaft der heiligen Toten aufzusuchen.«
    »Wo die durchwatbare Stelle im Himmel genau ist, weiß ich nicht«, sagte Dekobra, »aber ich war oft abends ganz weit im Westen und dabei erst am Morgen im Osten aufgestanden.«
    »Wenn man nicht weiß, wohin man geht, tut die Geschwindigkeit dabei nicht viel zur Sache«, murmelte Harris.
    Niemand antwortete, als habe er ein Tabu durchbrochen. Er zuckte mit den Achseln und nahm einen Schluck aus einem silbernen Flacon, den er in der Hosentasche hatte.
    »Ich ertrage das Tageslicht nicht mehr«, sagte er und verschwand. Ich ging zum hintersten Teil des Decks. Die gespaltene Spur, die wir hinter uns ließen, lief bis zum Horizont. Ich liebte es, genau in der Mitte zu stehen, die eiserne Krümmung der Reling wie eine Liebkosung um mich. Die Spur hatte die Farbe von Gold und Blut.
    »Ich ertrage das Tageslicht nicht mehr.« Ich wußte, daß ich, wenn ich mich umdrehen würde, die anderen wie ein verzerrtes Siebengestirn sehen würde, nur weil ich mich daraus entfernt hatte. Ich mußte dort stehen, allein, und nachdenken. Es waren die Worte, die sie am Ende des vorletzten Tages meines Lehrerdaseins gesagt hatte oder zu Beginn des letzten Tages, so konnte man es auch ausdrücken. Schlaf war nicht die Brücke gewesen zwischen diesen beiden Tagen, vielleicht daß es mir deshalb wie der längste Tag meines Lebens vorgekommen war. Wollen wir uns darauf einigen, daß ich an jenem Tag glücklich war? In meinem Fall geht das immer mit Verlust einher und folglich mit Melancholie, doch der Grundton war Glück. Sie wollte nie sagen, daß sie mich liebte (»Frag doch deine Mutter«), war aber unendlich findig im Ausdenken von Stunden, Codes, Orten für Verabredungen. Jedenfalls konnte ich in jenen Tagen sogar meinen eigenen Anblick ertragen, und etwas davon mußte auch nach außen hin sichtbar gewesen sein. (»Für einen, der so häßlich ist, siehst du ganz passabel aus.«)
    Wie auch immer, weil sich nun einmal alles in meinem Leben reimen muß, war die letzte Unterrichtsstunde, die ich geben sollte, Platons Phaidon gewidmet. Ich mag bescheuerte Reiseführer schreiben, aber ich war ein begnadeter Lehrer. Ich konnte sie wie Schäfchen um die dornigen Hecken der Syntax und der Grammatik führen, ich konnte den Sonnenwagen herabstürzen lassen, so, als stünde die ganze Klasse in Flammen, und ich konnte, und das tat ich an jenem Tag, Sokrates mit einer Würde sterben lassen, die sie in ihrem kurzen oder langen Leben nie mehr vergessen würden. Anfangs noch etwas dämliches Gekicher wegen meines Spitznamens (»Nein, meine Damen und Herren, diesen Gefallen werde ich Ihnen heute bestimmt nicht tun«) und danach Stille. Denn es stimmte nicht, was ich gerade sagte, ich starb da tatsächlich. »Wenn Kollege Mussert seine Sokratesnummer abgezogen hat, herrscht in der nächsten Stunde totale Ruhe«, hatte Arend Herfst gesagt, und ausnahmsweise hatte er recht. Aus dem Klassenraum war ein Athener Gefängnis geworden, ich hatte meine Freunde um mich versammelt, bei Sonnenuntergang sollte ich den Giftbecher trinken. Ich hätte mich dem entziehen können, ich hätte fliehen können, Athen verlassen, ich hatte es nicht getan. Jetzt würde ich noch einen Tag lang mit meinen Freunden sprechen, die meine Schüler waren, ich würde sie lehren, wie man stirbt, und ich würde nicht allein sein im Tod, ich würde in ihrer Gesellschaft sterben, jemand, der zur Welt gehört. Ich, mein anderes Ich, wußte, daß ich die Klasse über dünne Abstraktionen führen mußte, höhere Chemie, wobei der Mann, der bald sterben würde, die Seele vom Körper trennen wollte. Er führte einen Beweis nach dem anderen für die Unsterblichkeit der Seele an, doch unter all diesen so
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