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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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scharfsinnigen Argumenten gähnte der Abgrund des Todes, die Nichtexistenz der Seele. Dieser häßliche Körper, der da saß und sprach, der hin und wieder jemanden am Nacken streichelte, der herumging und dachte und Laute hervorbrachte, würde bald sterben, er würde verbrannt oder bestattet werden, die anderen sahen auf diesen Körper und lauschten den Lauten, die er hervorbrachte, mit denen er sie tröstete, sich selbst tröstete. Natürlich wollten sie glauben, daß sich in dieser plumpen, klobigen Hülle eine königliche, unsichtbare, unsterbliche Substanz verbarg, die keine Substanz war, etwas, das, wenn dieser eigenartige siebzigjährige Körper endlich verdreht am Boden liegen würde, diesem entfleuchen würde und, endlich von allem befreit, was das klare Denken behindert, befreit von Begierde, sich aufmachen würde, die Welt verlassen und gleichzeitig bleiben oder zurückkehren, das Unmögliche.
    Daß ich selbst nicht daran glaubte, tat nichts zur Sache, ich spielte jemanden, der es glaubte. Es ging an jenem Nachmittag nicht darum, was ich dachte, es ging um einen Mann, der seine Freunde tröstet, während er selbst es sein müßte, der getröstet wurde, und es ging darum, daß man die letzten Stunden seines Lebens mit Denken verbringen konnte, nicht mit den Argumenten an sich, sondern mit dem Hin und Her von Gedanken, Optionen, Vermutungen, Gegensätzen, mit den Bögen, die in diesem Raum vom einen zum anderen geschlagen wurden, mit den bestürzenden Möglichkeiten des menschlichen Geistes, über sich selbst nachzudenken, Auffassungen umzukehren, ein Netz von Fragen zu spinnen und dieses dann wieder in dem leeren Nichts zu verankern, in dem die Gewißheit sich selbst in Abrede stellen kann. Und wieder, wie bei Phaethon, zeigte ich ihnen die Erde von oben, meine Schüler, die die Erde schon hundertmal auf dem Fernsehschirm als blauweiße Kugel hatten schweben sehen, die längst wußten, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, waren jetzt die Schüler jenes anderen Sokrates geworden, sie flogen mit ihm aus jener Athener Zelle und sahen ihre damals noch um soviel geheimnisvollere Welt »als Ball, gebildet aus zwölf Lederstücken«, wie der echte Sokrates gesagt hatte, eine leuchtende, farbige Welt aus Edelsteinen, von der die Welt, in der sie täglich leben mußten und aus der ihr alter Freund ein paar Stunden später würde verschwinden müssen, lediglich eine kümmerliche, armselige Abbildung war. Und ich erzählte ihnen, daß in dieser Welt, die von oben gesehen wird und die die reale und zugleich nicht die reale Welt ist, unsagbar viele Flüsse unter der Erde zu dem großen, unterirdischen Gewässer des Tartaros fließen, Gewässer ohne Grund und Boden, eine unendliche Masse, und ich lief und tanzte vor der Klasse hin und her, schob mit meinen kurzen Armen gewaltige Wassermassen durch den Klassenraum, so wie jener andere Mann, von dem ich die Worte entliehen hatte, sie durch die Athener Gefängniszelle hatte fließen lassen, die er nie mehr verlassen sollte. Ein großes Schöpfwerk wurde ich, das das Wasser über die Erde verteilte. Und ich erzählte ihnen, er erzählte ihnen von den vier großen Flüssen jener Unterwelt, von Okeanos, dem größten, der um die Erde herumfließt, von Acheron, der durch tödliche Öde seinen Weg sucht und in einen See mündet, in dem die Seelen der Verstorbenen ankommen und auf ihr neues Leben warten, von Gebieten mit Feuer und Schlamm und Felsen, und immer wieder diese menschlichen Träume von ewiger Belohnung und ewiger Strafe, und ich ließ die armseligen Seelen dort im Nebel stehen, wo sie, sagte ich, warteten wie Arbeiter an einer Bushaltestelle im Wintermorgennebel.
    Und dann ist es soweit. Ich ziehe mich zurück, ich lege einen enormen Abstand zwischen mich und die ersten Bänke. Jetzt werde ich sterben. Ich sehe in die Augen meiner Schüler, wie er in die Augen seiner Schüler geschaut haben muß, ich weiß genau, wer Simmias ist und wer Kebes, und die ganze Zeit war Lisa d’India natürlich Kriton, der im Innersten seines Herzens nicht an die Unsterblichkeit glaubt. Ich habe alles vergeblich gesagt. Ich bleibe in der Ecke stehen, die der Tafel am nächsten ist, und sehe zu Kriton, meinem Lieblingsschüler. Sie sitzt weiß und aufrecht in ihrer Bank. Ich sage, ein Dichter würde sagen, daß das Schicksal mich jetzt ruft. Ich will mich waschen, damit die Frauen das nachher nicht mehr zu tun brauchen. Dann fragt Kriton mich, was sie noch für mich tun
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