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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman
Autoren: Ben Aaronovitch
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stimmt, das habe ich wohl.«
    Ich sah die blassen Dehnungsstreifen auf Lesleys Nasenrücken, die feinen Spuren geborstener Äderchen um ihren Mund herum, die sich wie ein feines Spinnennetz über ihre Wangen ausbreiteten. Selbst ihre Aussprache klang anders, durch die zerbrochenen Zähne verzerrt und weil Henry Pyke den Mund beim Sprechen geschlossen halten wollte, um den Schaden zu verbergen. Ohnmächtige Wut kochte in mir hoch, doch ich musste sie unterdrücken, denn hier hatte ich es mit einer Geiselnahme zu tun, und die erste Regel beim Verhandeln mit einem Geiselnehmer war, sich nicht emotional involvieren zu lassen. Oder vielleicht war es auch »Töte den Kidnapper nicht, bevor die Geiseln frei sind«. Eins von beiden.
    »Im Rückblick«, sagte ich, »scheint es mir sehr bemerkenswert, dass du dich nie verraten hast.«
    »Du hattest keinerlei Verdacht?«, fragte Lesley glücklich.
    »Nein. Du warst absolut überzeugend.«
    »Eine Frauenrolle ist immer eine besondere Herausforderung«, erklärte Lesley. »Und eine moderne Frau zu spielen ist doppelt schwierig.«
    »Umso trauriger, dass sie sterben muss.«
    »Ich kann dir sagen, niemand war mehr überrascht als ich, mich in diesem Körpergefäß wiederzufinden«, sagte Lesley. »Dafür muss ich diesem Piccini die Schuld geben, diese Italiener sind ein leidenschaftliches Völkchen und können einfach nicht anders, sie müssen all ihre Unternehmungen immer mit fleischlichen Gelüsten verbinden   – sogar ihre religiöse Kunst.«
    Ich nickte und zeigte mich interessiert. Obwohl der Fernseher und der DV D-Player an der Steckdose hingen, leuchteten ihre Stand-by-Dioden nicht. Lesley musste schon so lange hier gewartet haben, dass sie meine gesamte Elektronik ausgelaugt hatte, und als Nächstes würde dann wohl Lesleys Gehirn dran glauben müssen. Ich musste unbedingt die letzten Überreste von Henry Pyke aus ihrem Kopf vertreiben.
    »So ist es in einem Schauspiel«, sagte Lesley. »Die Akte und Szenen sind viel schöner geordnet als in der chaotischen Alltagswelt. Wenn man sich nicht vorsieht, kann man sich nur allzu leicht vom Genius einer Charakterrolle mitreißen lassen. So machte Punchinella Narren aus uns beiden.«
    »Aber du möchtest doch auch lieber, dass Lesley weiterlebt?«, fragte ich.
    »Wäre das denn möglich?«, fragte sie zurück.
    »Nur, wenn du einverstanden bist.«
    Lesley beugte sich vor und nahm meine Hand. »Oh, aber das bin ich doch, mein lieber Junge. Wir könnendoch nicht zulassen, dass man Henry Pyke für einen abgefeimten Schurken hält, der sein eigenes trauriges Schicksal einer Unschuldigen aufbürden wollte.«
    In dem Moment fragte ich mich wirklich, ob er auch nur einen blassen Schimmer davon hatte, was für eine Spur von Tod und Elend er hinter sich hergezogen hatte. Vielleicht brachte das Geisterdasein das mit sich, vielleicht erschien den Untoten die Welt der Lebenden als Traum, den man nicht allzu ernst nehmen musste.
    »Dann lass mich meinen Arzt anrufen«, sagte ich.
    »Du meinst den schottischen Mohammedaner?«
    »Dr.   Walid«, nickte ich.
    »Und du glaubst, dass er sie retten kann?«, fragte Lesley.
    »Ja, das glaube ich.«
    »Dann solltest du ihn herbeirufen«, sagte Lesley.
    Ich ging auf den Treppenabsatz hinaus, legte einen Akku in mein Reservehandy und rief Dr.   Walid an. Er versprach, in spätestens zehn Minuten hier zu sein. Dann gab er mir noch ein paar Anweisungen, wie ich mich in der Zwischenzeit verhalten sollte. Lesley blickte mir erwartungsvoll entgegen.
    »Darf ich Nightingales Stock haben?«, fragte ich.
    Lesley nickte und reichte mir den Spazierstock mit dem Silberknauf. Ich schloss die Hand um den Knauf, wie Dr.   Walid gesagt hatte, spürte und fühlte aber nichts, nur das kalte Metall. Alle Zauberkraft war aus Nightingales Zauberstab gesaugt worden.
    »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte ich. Über der Chaiselongue lag ein relativ sauberes Abdecktuch, das ich jetzt herunterzog.
    »Wahrhaftig?«, fragte Lesley. »Und da nun die Stunde näher rückt, fällt mir das Scheiden immer schwerer.«
    Ich machte mich daran, das Möbeltuch in breite Streifen zu reißen. »Kann ich mal direkt mit Lesley sprechen?«, fragte ich.
    »Aber natürlich, mein lieber Junge«, sagte Lesley.
    »Wie geht’s dir?«, fragte ich. Äußerlich konnte ich keinerlei Veränderung an ihr sehen.
    »Ha!«, sagte Lesley und an ihrem Ton hörte ich, dass das die richtige Lesley war. »Blöde Frage. Es ist schon passiert, oder nicht? Ich
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