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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende
Autoren: Karin Alvtegen
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Jackentasche.»
    Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihm um. Für einen kurzen Moment sahen sie sich an, und dann stieß sie ihm mit aller Gewalt die Nagelfeile ins Gesicht.
    Sie bekam nicht mit, wohin sie traf. Als er die Hände vors Gesicht schlug, drehte sie sich um und rannte davon. Hinter dem niedrigen Holzzaun begann der Wald, und trotz ihrer Schmerzen warf sie sich hinüber, ohne ihr Tempo zu drosseln.
    Sie sah sich nicht um.
    Er schrie auch diesmal nicht.
    Spitze Zweige peitschten ihr ins Gesicht, als sie sich vorwärts arbeitete, aber nichts konnte sie dazu bringen, ihr Tempo zu
    drosseln. Es war noch nicht dunkel genug, um einfach nur stehen zu bleiben und sich zu verstecken. Sie musste weg. Weit weg. Bevor er ihr nachkam.
    Sie wusste nicht, wie lange sie gerannt war. Uber Steine stolpernd und von den Wasserlachen auf ihrem Weg bis zu den Schenkeln durchnässt. Total erschöpft fiel sie längelang über irgendetwas, was in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen war, und blieb liegen. Ihre Lungen brannten von der Anstrengung. In regelmäßigen Abständen versuchte sie ihren keuchenden Atem zu dämpfen, um auf Geräusche zu horchen.
    Mehr als der Wind in den Bäumen war nicht zu hören, ihr eigenes Schnaufen nahm sich im Vergleich dazu wie ein Dröhnen aus.
    Lange lag sie so da. Völlig still, aber in wachsamer Bereitschaft.
    Wie schwer hatte sie ihn verletzt?
    Noch war sie nicht gerettet.
    Und dann plötzlich seine Stimme. Nicht nahe, aber trotzdem viel zu deutlich in der Dunkelheit.
    «Sibylla ... Du kannst dich nicht vor uns verstecken ... Gott sieht alles, das weißt du ...»
    Dieser Schreck wieder.
    Und dann der Mond, der sich plötzlich zeigte und auf sie schien.
    Wie eine Himmelslampe.
    Direkt vor ihr eine Tanne, deren Zweige bis zur Erde reichten. Rasch kroch sie in deren schützendes Dunkel.
    «Sibylla ... Wo bist du?»
    Seine Stimme war jetzt viel näher. Ihr Atem ein unerbittlicher Verräter.
    Jetzt konnte sie ihn erspähen. Als ob er einem unsichtbaren Faden folgte, kam er direkt auf ihr Versteck zu.
    «Ich weiß, dass du hier irgendwo bist.»
    Jetzt konnte sie sein Gesicht erkennen. Voller Blut und im aufgerissenen Auge leuchtete das Weiß.
    Nur noch zehn Meter.
    Und dann plötzlich totale Dunkelheit.
    Blitzartig war der Mond hinter einer gesegneten Wolke verschwunden und hatte sie gerettet. Sie hörte Ingmar aufstöhnen und begriff, dass er gestolpert war und sich mit seiner verletzten Hand abgefangen hatte.
    Das geschieht dir recht! Du verdammter Idiot!
    Sie merkte, dass sie lächelte. Dass das Verschwinden des Mondes ihr neue Hoffnung gegeben hatte. Sie war nicht dem Untergang geweiht. Für einen kurzen Moment war es ihm beinahe gelungen, sie zu überzeugen.
    «Du hast keine Chance... Früher oder später finden wir dich.»
    Seine Stimme war wieder weiter entfernt.
    Im Moment war sie gerettet.
    Vielleicht nickte sie ab und zu ein, sie wusste es nicht. Die Dunkelheit war so kompakt, dass es egal war, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte. Als sich im Morgengrauen die ersten Konturen abzeichneten, kroch sie aus ihrem Versteck, um nach einer Straße zu suchen.
    Zurückgehen wollte sie nicht, aber was wusste sie, wie weit sich der Wald in der anderen Richtung erstreckte! Sie beschloss, im rechten Winkel zu ihrem Fluchtweg weiterzulaufen. Dann müsste sie irgendwann auf die Straße stoßen, freilich ein gutes Stück von seinem Haus entfernt.
    Sie fror so, dass sie zitterte. Jetzt, da sie Zeit hatte, ihm nachzuspüren, meldete sich der Schmerz wieder. Jeder Schritt brannte wie Feuer im Brustkorb.
    Die Helligkeit kam schnell. Der Wald war hier lichter, kahle Kiefernstämme ohne Unterholz. Sie musste bald die Straße erreichen, sonst könnte er sie schon von weitem entdecken.
    Irgendwo knackte ein Zweig. Sie stand mucksmäuschenstill und versuchte das Geräusch zu lokalisieren. Da! Noch ein Knacken. Aus einer anderen Richtung.
    Dann entdeckte sie sie.
    «Legen Sie sich hin!», schrie einer von ihnen. Er war uniformiert und zielte mit einer Pistole auf sie, die er mit beiden Händen hielt.
    Hätte sie nicht solche Angst bekommen, dann wäre sie über ihren Anblick froh gewesen. Nie hatte sie geglaubt, über die Begegnung mit einem Polizisten mal so glücklich sein zu können.
    Sie tat, was er sagte. Vorsichtig, um den Schmerz zu lindern, legte sie sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Als sie den Kopf wandte und aufsah, näherten sich vier bewaffnete Polizisten, die ihre Pistolen
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