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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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wusste, was Dominanz war. Er erinnerte Minnie an einen Zirkusdompteur, der gefährliche Löwen erniedrigende Dressurakte ausführen ließ und sie einem kriecherischen Gehorsam unterwarf, gegen den nur das leise Knurren und die hasserfüllten Augen der Tiere rebellierten.
    „Wie ich sehe, haben Sie sich kennengelernt!“ Der Psychologe stand in der Tür.
    Ohne Dr. Albers anzusehen, entgegnete Knut Knopinski: „Ich vergesse niemals ein Gesicht.“ Sein Blick war starr auf Minnie gerichtet, und driftete dann ab ins Leere – als versuche er, sich an den Zeitpunkt einer früheren Begegnung zu erinnern. Doch Minnie war sich sicher, Knopinski nie zuvor begegnet zu sein.
    Der Alte stand schlagartig auf. Dabei bewies er ein Geschick, das ihm Minnie niemals zugetraut hätte. Gestützt auf einen schwarzen Holzstock wiederholte er seine im Raum schwebenden Worte, die wie eine Drohung kla ngen.
    „Ein Gesicht vergesse ich niemals!“
     
    „Er ist gemein, nicht wahr?“, sagte Marisabel zu Minnie, als die Knopinskis außer Reichweite waren.
    Die krumme Sonja ächzte im Rollstuhl.
    „Diesen alten Sack sollte man…“, meinte Mutter Merkel, ohne ihren Satz zu vollenden. „Kostja, können Sie ihm nicht eine Henkersmahlzeit servieren?“
    „Er hat den bösen Blick“, wiederholte Omi und rückte ihre blonde Perücke zurecht.
    „Man sollte meinen, er sei todkrank, und deshalb so eklig“, schüttelte sich Annette. Ihr Plastikschlauch schwang von rechts nach links. „Dabei hat es seine arme Frau getroffen. Der Greis weicht niemals von ihrer Seite.“
    Auch Bella Schiffer hatte die Begegnung mit dem bösartigen Mann erschüttert. „Warum müssen wir Jungen gehen, während Menschen wie er ein biblisches Alter erreichen?“, rief die Schönheitskönigin.
    Nur Pfleger Bruno war unbeeindruckt. „Na, meine  Herrschaften“, sagte er.  „Sie wollen sich doch nicht von einem schlecht gelaunten, betagten Herrn die gute Laune verderben lassen. Kommen Sie Frau Prinz! Zeit für den Schminkspiegel – heute gibt es noch Musik!“
    Marisabel erhob sich geschmeichelt.
    Und Professor Pellenhorn, der fröhliche Buddha, blinzelte glücklich in seinem Rollstuhl. 

Das dreizehnte Zimmer
     
     
    Eine Stunde später hätte Minnie nicht mehr sagen können, ob es die neuen Gesichter, die unzähligen Informationen, die Begegnung mit Knut Knopinski, der Kaffeeklatsch oder die süße Torte gewesen waren, die ihren Tribut gefordert hatten. Kaum jedoch war die alte Dame in ihrem Zimmer gewesen, hatte sie auch schon die Müdigkeit überwältigt.
    Jetzt erwachte sie und sah umgehend auf ihre Uhr. 17.30 Uhr! In einer halben Stunde gab es bereits das Nachtmahl. 
    Trotz ihres Geburtstages war sich Minnie unsicher, ob sie zum Klavierkonzert gehen sollte. Sie fühlte sich immer so müde. Woran das bloß lag? Die alte Dame nahm sich vor, Dr. Albers bei nächster Gelegenheit zu fragen, was die Ursache sein könnte. Schon morgen würde sie die Gelegenheit dazu haben. Nachdem sich die Kaffeegesellschaft aufgelöst hatte, war sie von dem Psychologen über den restlichen Tagesverlauf informiert worden. „Am frühen Abend werden Dich ein Pfleger und ein Schmerztherapeut besuchen. Sie brauchen ein paar Informationen.“
    „Was müssen die Ärzte noch wissen?“
    „Basisinfos“, erwiderte Andreas. „Erstens tragen wir Deine Essensvorlieben und Abneigungen in einen so genannten Überleitungsbogen ein. Zweitens Allergien und mögliche Keimbefälle. Das Wichtigste jedoch ist die optimale Schmerzmedikation, sprich – das Morphium.“
    „Wann sehen wir uns wieder?“
    „Morgen“, versprach Dr. Albers. „Einmal pro Tag schaue ich in jedes Zimmer, um zu sehen, was unsere Gäste gerade bewegt. Dann kannst Du mir alles erzählen, egal, ob es sich um vermeintliche Banalitäten oder um Ängste handelt.“
    Seit diesem Gespr äch war eine Stunde vergangen. Nun öffnete Minnie ihre Tür und setzte sich auf die kleine Couch im Halbdunkel, die vor Zimmer 6 stand. Von hier aus ließ sich der komplette erste Stock überblicken, ohne dass man sie selbst sah. Die alte Dame hörte unzählige Alltagsgeräusche, die sich miteinander vermischten. Geschirrklappern von unten, das eintönige Summen der Sauerstoffmaschine aus Professor Pellenhorns Zimmer und die Schritte von Menschen auf der Treppe. Die Welt der Klänge in Haus Holle war einzigartig. Doch es war noch etwas anderes zu hören, und das klang unheimlicher. Bruchstückhaft vernahm Minnie die Fetzen eines erregten
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