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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos
Autoren: Michael Peinkofer
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hat mich die Realität unserer Tage wieder eingeholt. Vorbei die Zeiten, in denen ich meinen Vater auf seinen Streifzügen rund um die Welt begleiten und an jenem großen Abenteuer teilhaben durfte, das die Vergangenheit birgt. Nach seinem Willen soll ich eine Lady werden, soll all das lernen, was meinem Titel entspricht – dabei würde ich den Samt meiner Kleider und die früh sommerliche Wärme Europas jederzeit gegen staubigen Drillich und die sengende Sonne der Wüste tauschen.
    In London hatte ich das Gefühl, inmitten trister Mauern und eng geschnürter Korsette zu ersticken – umso gelegener kam mir die Reise nach Paris, das es an Exotik zwar nicht mit Konstantinopel oder Samarkand aufnehmen kann, mir aber dennoch ein wenig Abwechslung bietet – und nicht zuletzt die Möglichkeit, vor einem anerkannten Fachpublikum zu beweisen, dass die Archäologie meine wahre Leidenschaft ist …
    G RANDE A MPHITHEATRE , L A S ORBONNE , P ARIS
16. J UNI 1882
    »… aus diesem Grund, geschätzte Zuhörer, komme ich zu dem Schluss, dass die historische Rolle von König Assurbanipal neu überdacht werden sollte. Die moderne Forschung sollte aufgeklärt genug sein, in diesem letzten bedeutenden Herrscher des Assyrerreiches das zu sehen, was er wohl auch gewesen ist: einen von Größenwahn und Machthunger zerfressenen Menschen, der buchstäblich über Leichen ging.«
    Sarah Kincaid blickte von dem Manuskript auf, das vor ihr auf dem Rednerpult lag und nicht in ihrer Handschrift, sondern in der ihres Vaters verfasst war. Sie gab sich Mühe, die Aufregung zu verbergen, die sie empfand, denn nach all den Jahren, in denen sie ihren Vater auf seinen Reisen begleitet und sich dem Studium der Archäologie verschrieben hatte, war dies ihr erster großer Auftritt vor einem fachkundigen Publikum. Entsprechend schnell schlug ihr Herz, entsprechend weich waren ihre Knie.
    Das Auditorium war bis zum letzten Rang hinauf besetzt, selbst auf den schmalen Gängen, die zwischen den Sitzreihen verliefen, drängten sich Zuschauer, vom Erstsemester bis hinauf zum Doktoranden. Sarah war klar, dass dieses rege Interesse nicht so sehr den Theorien Gardiner Kincaids galt, sondern der Tatsache, dass sie von seiner Tochter vorgetragen wurden. Zwar war es, im Gegensatz zu den englischen Universitäten, durchaus nicht ungewöhnlich, dass Frauen an der Sorbonne studierten; sie jedoch in solch hervorgehobener Position agieren und an einem wissenschaftlichen Symposion teilnehmen zu sehen sorgte auch hier für Erstaunen, und nicht wenigen der ergrauten Professoren, die in den ersten Sitzreihen Platz genommen hatten und in ihren hochgeschlossenen Krägen schier zu ersticken schienen, war deutlich anzusehen, was sie davon hielten.
    Sarah stand in einem schlichten, beigefarbenen Kleid am Pult, das lange, dunkle Haar zu einem Zopf geflochten und hochgesteckt. Ihr für eine Lady etwas zu dunkler Teint und die Sommersprossen über ihrer keck hervorspringenden Nase waren von einer schlichten Schönheit; weder trug sie Schmuck noch sonstigen Putz; davon hielt sie nicht viel. Sie wollte in diesem Augenblick nicht in erster Linie als Frau wahrgenommen werden, sondern als Wissenschaftlerin, die die jüngsten Theorien ihres Lehrers vortrug.
    »Geschätzte Zuhörer, so weit die Ausführungen Gardiner Kincaids die assyrische Spätzeit betreffend. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit«, brachte Sarah den Vortrag zu Ende – Applaus, wie er an dieser Stelle üblich gewesen wäre, blieb jedoch aus.
    »Sollte es noch Fragen bezüglich der angesprochenen Hypothesen geben«, fügte Sarah deshalb hinzu, »bin ich gerne bereit, diese mit Ihnen zu diskutieren, wobei ich mich nach Kräften bemühen werde, meinen Vater würdig zu vertre …«
    »Fragen habe ich allerdings!« Die Stimme, die diese Worte rief, schnitt wie ein Messer durch die Luft. In der vordersten Sitzreihe erhob sich ein hagerer Mann, der wie seine Kollegen Hemd und Rock trug. Obwohl Sarah sein Alter erst auf Mitte dreißig schätzte, strahlte er jene gravitätische Würde aus, die für gewöhnlich nur ergrauten Häuptern zu eigen war. Sein dunkles Haar stand wirr in alle Richtungen, die silberumrandete Brille auf seiner Nase bebte, während er Sarah mit vorwurfsvollen Blicken musterte.
    »Wie können Sie es wagen?«, zeterte er und schien dabei Mühe zu haben, an sich zu halten. »Wie können Sie das Erbe eines der bedeutendsten Herrscher Assyriens derart in Zweifel ziehen? Die Bedeutung Assurbanipals
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