Die Flamme von Pharos
unter Wasser.
Einen kurzen, hoffnungsvollen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wäre dies schon alles gewesen. Dann jedoch war erneut jenes unheilvolle Rauschen zu hören, und eine weitere Woge ergoss sich in die Bibliothek, die diesmal gar nicht mehr enden wollte.
»Verdammt«, rief Mortimer Laydon, der aufgrund seiner Verletzung Mühe hatte, sich inmitten der hin und her schwappenden Fluten auf den Beinen zu halten. »Der Beschuss muss eine Zisterne getroffen haben …«
»Nein«, widersprach Sarah, »das ist Meerwasser. Offenbar befinden wir uns wieder in Ufernähe.«
»In Ufernähe? Aber wie ist das möglich …?«
Ein neuerlicher Schwall brach herein, mit derartiger Wucht, dass er einen Teil der Pylonen mitriss, die den Ausgang säumten. Die Öffnung erweiterte sich dadurch, und noch mehr braune Gischt strömte in die Halle, die bald zwei Fuß tief unter Wasser stand.
»Raus hier, wir müssen raus!«, rief du Gard, der zu Laydon geeilt war, um ihn zu stützen.
»Zurück in den Stollen«, rief Sarah und wollte los, aber du Gards Zuruf hielt sie zurück.
»Nein«, widersprach er, »das ist Wahnsinn! In dieser Richtung gibt es keinen Ausgang, das wissen wir, und keiner von uns hat mehr die Kraft, den ganzen Weg zurückzugehen …«
»Aber ich muss zurück«, beharrte Sarah. »Dort ist mein Vater …«
»Dein Vater ist tot«, schrie du Gard, »aber wir sind noch am Leben! Du hilfst ihm nicht, indem du dein Leben wegwirfst. Er hätte gewollt, dass du lebst. Dass wir leben …«
»Und wenn schon«, knurrte Sarah.
In ihrem Ansinnen, ihren Vater zu retten, hatte sie kläglich versagt – sollte sie nun auch noch seine sterbliche Hülle zurücklassen? Ihm das Letzte verwehren, das sie noch für ihn tun konnte, nämlich ihn nach Hause zu bringen und in Heimaterde zu bestatten?
Es kam ihr vor, als würde er dadurch noch einmal sterben und als würde sie wiederum die Schuld daran tragen. Verzweiflung packte sie, und sie wollte du Gard eine trotzige Verneinung entgegenschleudern, als sie plötzlich an das denken musste, was ihr Vater zu ihr gesagt hatte. »Du bist eine gute Anführerin«, hatte der alte Gardiner festgestellt, »die Leute vertrauen dir …«
Und plötzlich fühlte Sarah wieder die Verantwortung.
Auch wenn es sie nicht kümmerte, ob die Decke über ihr zusammenstürzte, auch wenn ihr jeder Lebenssinn genommen war, gab es dennoch Dinge, für die es sich einzustehen lohnte. Hingis, du Gard und Dr. Laydon hatten sie bis ans bittere Ende ihrer Suche begleitet, dafür stand sie in ihrer Schuld. Sie musste ihre Trauer verdrängen und dafür sorgen, dass ihre Gefährten sicher zur Oberfläche zurückkehrten. Das, dachte sie in Erinnerung an ihren Vater, war die wahre Mission, die sie zu Ende zu bringen hatte …
Gehetzt blickte sie sich um, suchte nach einem Fluchtweg, der Rettung aus den immer weiter einbrechenden Fluten versprach – und fand ihn tatsächlich. Auf der Balustrade, die die Halle umlief, gab es einen schmalen Durchgang. Zwar wussten weder Sarah noch ihre Gefährten, wohin er führte, aber immerhin würden sie dem Wasser fürs Erste entkommen sein …
»Dort hinauf, los!«, rief sie.
Inzwischen stand ihnen das Wasser bis zu den Hüften. Wankend und mit den Armen rudernd, kämpften sie sich zur Treppe, was infolge der reißenden Strömung alles andere als einfach war. Um Laydon zu entlasten, nahm Sarah ihm die Fackel ab, die die einzige verbliebene Lichtquelle darstellte. Verlosch auch sie, waren sie alle verloren …
Hingis war der Erste, der die Stufen erreichte. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er sich aufs Trockene, dann streckte er seine unverletzte Hand aus, um Sarah zu helfen. Gemeinsam bugsierten sie Mortimer Laydon die Stufen hinauf, als Letzter entstieg du Gard der tosenden Flut, die immer weiter anstieg.
Sarah konnte es sich nur so erklären, dass ein Bombentreffer eine Schleuse zum offenen Meer zerstört hatte, sodass Wasser in praktisch unbegrenzter Menge nachfließen konnte. Das Museion würde untergehen, verloren sein für alle Zeit – aber es war schon zuvor ein toter Ort gewesen, eine Ruine, die nur noch leere Hüllen beherbergt hatte. Nicht die einbrechenden Fluten, sondern die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber ihrer Vergangenheit hatten die Bibliothek in Wahrheit vernichtet.
Von der Balustrade aus erheischte Sarah einen letzten Blick auf das in Finsternis zurückgefallene Gewölbe, von dessen Grund ein dunkles Gurgeln drang. Das also war
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