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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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Sitzungsraum nahmen wir ein einfaches Abendessen zu uns, tranken Rotwein und sahen uns alte Filme an. Jian Lin ist Eigentümer von Beijing BOBO Real Estate und gehört zu den drei Jahrgängen, die zwischen 1966 und 1968 ihren Schulabschluss gemacht hatten. Während der Kulturrevolution hatte man sie als junge Intellektuelle aufs Land geschickt. Obwohl sie nach dem Ende des zehnjährigen Kulturkampfes eigentlich das Hochschulalter überschritten hatten, durften sie, nachdem 1977 die Universitäten ihre Zulassungsprüfungen wieder aufnahmen, dennoch studieren. Jian Lin hatte nach seinem Abschluss einen Beamtenposten bekommen. Schon als Student hatte er den Umgang mit Künstlern und Literaten gepflegt. Später war er nach Hainan gegangen und hatte sich dort selbstständig gemacht. Wie aus ihm ein Immobilienmagnat wurde, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall hatte er sich seine Liebe zur Kultur bewahrt und hob sich dadurch von anderen Wirtschaftsmenschen ab. Er sprach gerne über Themen von nationaler Bedeutung und schickte Freunden und Geschäftspartnern zu Neujahr selbstverfasste Gedichte. 2008 stand seine Firma kurz vor dem Börsengang, den die globale Finanzkrise jedoch zunichte machte. Mit einem Mal taten sich Löcher in der Kapitalkette auf und das Unternehmen stand kurz vor dem Bankrott und einer Übernahme durch die Konkurrenz. Irgendwie schaffte es Jian Lin jedoch, im letzten Moment das Ruder herumzureißen. Inzwischen brummte der Laden besser denn je. Jian Lin war schon immer ein Arbeitstier gewesen, dennoch hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, an jedem ersten Sonntag im Monat zusammen mit Familie und Freunden und bei schlichter Ver­pflegung alte chinesische Filme vorzuführen. Anfangs kamen immer eine Menge Leute, aber dann blieben mit der Zeit seine Verwandten weg und auch die Freunde kamen nur noch, wenn ihnen das Programm besonders zusagte. Im Winter war ich oft sein einziger Gast. Seit mich ein Freund einmal mitgenommen hatte, waren die Abende dort schnell zu einem fixen Termin geworden. Zum einen hatte ich viel Zeit, zum anderen wohnte ich in der Nähe und drittens interessierten mich diese uralten Filme aus den Anfangsjahren der Volksrepublik, denn in Hongkong und Taiwan waren sie nie gelaufen. Ich war ein treuer Gast und es bestanden keine Abhängigkeiten zwischen uns, ich wollte nichts von ihm und war noch dazu politisch völlig unbedeutend, er brauchte mir gegenüber also nicht ständig wachsam zu sein. Eine gute Grundlage für eine Freundschaft. Wenn wenig Gäste kamen oder – wie so oft im Winter – das Publikum nur aus uns beiden bestand, holte er zuweilen einen seiner besten Tropfen hervor, ’82er, ’85er oder ’89er Bordeaux erster Güte, die wir dann gemeinsam leerten, manchmal zwei Flaschen an einem Abend. Da Taiwan in Sachen Rotweinverköstigung gegenüber dem Festland gute fünfzehn Jahre Vorsprung hatte, verstand ich es, seine exquisiten Weine zu würdigen und darüber hinaus bereitwillig zuzuhören, wenn er seine angelesenen Weinkenntnisse zum Besten gab. Ich war sein idealer Trinkkumpan und genoss eine besondere Stellung, was sich auch darin deutlich zeigte, dass er anderen Gästen gegenüber mit seinen teuren Weinen geizte.
    Das Einzige, was mir nicht behagte, war die Tatsache, dass ich mich bisher noch nicht für seine Gastfreundschaft hatte revanchieren können. Irgendwann würde es noch so aussehen, als wäre ich bloß der Gratisverköstigung wegen hier. Ein Literat, der sich umsonst durchfraß. Hatte ich das nötig?
    Wir tranken viel Bordeaux, jedoch nie Burgunder. Nach einer kurzen Internetrecherche sprach ich ihn auf das Thema an und fand ihn sehr interessiert, aber offenkundig noch weitgehend unbedarft. Es war also beschlossene Sache: Während meines Neujahrstrips nach Taipeh suchte ich meinen alten Schulkameraden A-yuan auf, um ihm zwei Flaschen Burgunder abzunötigen.
    Ein Großteil des weltweiten Angebots an Scannern war einmal aus A-yuans Elektronikfabrik in Hsinchu gekommen, gleichzeitig besaß er die wahrscheinlich größte Sammlung an Burgunderweinen in ganz Taiwan, die sich nicht vor den Kellern namhafter Weinexperten in Hongkong zu verstecken brauchte. Die Wirtschaftskrise hatte zwar sein Vermögen schrumpfen lassen, nicht jedoch seine Weinvorräte. Ich hatte A-yuan noch nie um einen Gefallen ersucht; dieses Mal bat ich ihn unumwunden um zwei Flaschen seines besten Burgunders. Höchst erfreut fragte er mich, ob ich nicht gleich ein paar Flaschen mehr mitnehmen
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