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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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kaum etwas
zu verstehen war, der Widerschein der Fackeln und Lampions funkelte auf dem
stillen Wasserspiegel des Kanals.
    Verwirrt blickte ich auf diesen
bunten Haufen. Er drehte sich, schwankte, bewegte sich vorwärts, blieb stehen –
dann hüpfte, tanzte und sang jeder einzelne für sich, als wetteiferten sie
miteinander. Beim Anblick dieser seltsamen Belustigung wurde mir schwindlig.
Das war keine Freude, das war Ehrgeiz. Schneller! Toller! Gestern hatte
Langeweile und Strenge geherrscht, und ebenso würde es morgen sein, dem Heute
mußte also möglichst viel abgetrotzt werden.
    »Was siehst du?«
    Das war Šehagas Stimme.
    Ich trat zu ihm und fragte: »Wie
geht es dir?«
    »Was hast du auf der Straße
gesehen?«
    Ich sagte es ihm in drei Worten.
    »Es scheint dir nicht zu gefallen.«
    »Ich weiß nicht. Sie gebärden sich
so toll, als müßten sie morgen ins Gefängnis.«
    »Du bist nicht dabei, darum kommt es
dir seltsam vor. Wärst du unter ihnen, wiirdest du es schön finden.«
    »Vielleicht.«
    »Das ist ein Freudenfest für alle.
Drei Lappen genügen, um nicht das zu sein, was man jeden Tag ist. Und eine
Maske vor dem Gesicht, damit man alles tun kann und sich nicht zu schämen
braucht. Denn alle machen es so. Es ist heilsam, einmal unvernünftig zu sein.
Alles ist erlaubt, nichts ist häßlich, nichts ist Sünde. Weil es nicht ein
einzelner tut, allen anderen zum Trotz, sondern alle. Dann gibt es keine Sünde
und keine Buße. Ein paar Tage und Nächte das zu sein, was man möchte, sich von
allem zu erholen, von Verboten, Lügen, Anordnungen, Grobheiten, das ist Balsam
fürs Herz. Wir verstehen uns nicht darauf.«
    »Und danach?«
    »Danach geht alles weiter wie sonst,
bis zum nächsten Fest.«
    Nein, das war es nicht, was ihn
schmerzte, aber ich wagte keine Fragen. Ich sagte ihm, daß Osman zum
Würfelspielen mit den Griechen gegangen war, und übergab ihm das Geld. Šehaga
steckte es unters Kopfkissen, ohne nachzuzählen.
    Er lachte.
    »Dieser Lausbub wird uns in der Welt
noch berühmt machen. Die Leute werden glauben, daß wir alle so sind. Manchmal
beneide ich ihn um seine Natur. Er fühlt sich überall wohl.«
    »Und ich kann die Rückreise kaum
erwarten.«
    Sofort wußte ich, daß es ein Fehler
war, das zu sagen.
    Šehaga drehte sich stumm zur Wand um.
    Ich lauschte dem Karnevalslärm, dem
ausgelassenen Geschrei, den Hunderten begonnener und nicht beendeter Lieder,
dem überlauten Gelächter, ich lauschte ebenso wie Šehaga und betrachtete seinen
weißhaarigen Kopf. Er tat mir leid, weil er nicht mehr sprach, weil er seinen
Schmerz unterdrückte. Und ich konnte ihm mit nichts helfen.
    Auf dem Schiff hatte er gern
zugehört, wenn ich von den Menschen erzählte, ein wenig traurig, ein wenig
lächerlich, wie es eben im Leben war. Von meinen Kriegskameraden aus Chotin und
von anderen, die ich kannte, von dem Buchbinder Ibrahim, der vor seinen drei
Frauen in den Krieg davongelaufen war, dem es aber besser ergangen wäre, wenn
er gegen sie statt gegen die Russen gekämpft hätte; von Hadschi Husein Pišmiš,
der sich vor seinen Gläubigern in der fernen Ukraine versteckt und dennoch
seine Schulden mit dem höchsten Zinssatz zurückgezahlt hatte; von Avdija
Suprda, der nicht im Krieg, sondern unter einem Birnbaum umgekommen war; von
Salih Golub und seinem schlimmen Schicksal; von Frau Rabija und ihrer späten
Liebe; von Mahmuts Angst und Durchfall; von Menschen und Dingen, die man am
klarsten sieht, wenn man unter Tränen über sie lacht.
    Ich fragte: »Soll ich dir etwas
erzählen?«
    »Vor vier Jahren war ich mit meinem
Sohn hier«, sagte er auf einmal. »Die ganze Nacht waren wir auf der Straße, mit
Masken.«
    Das hatte er nicht für sich behalten
können.
    Ich fragte nicht, sagte nichts, er
sollte aussprechen, was er mußte.
    »In den achtzehn Jahren, die er
unter meinen Augen aufgewachsen war, hatte ich ihn nie so fröhlich erlebt. Ich
wollte, daß wir jeden Winter herkämen. Aber dann zog er in den Krieg. Ich weiß
nicht ... ich weiß nicht warum. Vielleicht wollte er seine Freunde nicht im
Stich lassen. Ich weiß es nicht.«
    Seine Stimme war heiser, gepreßt,
leise.
    Er sagte nur dies und drehte sich
wieder zur Wand um.
    Ich trat ans Fenster, holte tief Luft, um mich zu beruhigen.
    Die Straße hatte sich geleert, der
Lärm war verebbt, er drang nur noch schwach aus einem anderen Stadtteil herüber.
    Auf einmal erstarrte ich. Hatte ich
ein Stöhnen gehört? Einen schweren Seufzer, der in Weinen
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