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Die ewige Bibliothek

Die ewige Bibliothek

Titel: Die ewige Bibliothek
Autoren: James A. Owen
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Junge dem durchgeweichten Zeitungspapier mehr Aufmerksamkeit schenkte, als dem darin eingewickelten Schellfisch.
    »Junge«, sagte er barsch, denn niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, dem Kind einen Namen zu geben, »bring mir diese Zeitung!« Der Junge tat wie ihm geheißen, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie schnell Ungehorsam eine Ohrfeige zur Folge hatte. Vaughn deutete auf ein Wort und sah ihn erwartungsvoll an. Sofort las das Kind das Wort ›Königliche‹ laut vor, sowie ›Prozession‹ und ›Haus‹ und ›Fawkes‹ und jeden weiteren Begriff, auf den sein Stiefvater zeigte; es hatte noch nicht gelernt, dass niemand mit seinen Fähigkeiten rechnete und eine solche Überlegenheit seinen Eltern gegenüber ihm statt Lob nur eine Tracht Prügel einbringen würde.
    Er erinnerte sich, dass er das Wort »Exzentrizitäten« lesen sollte, was er unverzüglich tat. Daraufhin verspürte er einen heftigen Schmerz hinter dem linken Ohr, und dann nichts mehr. Offenbar endete die Toleranz seines Stiefvaters bei vier Silben.
    So wurde der Junge während der nächsten drei Jahre seines Lebens in den Augen seiner Eltern zu einem stummen Analphabeten – zumindest nachts, wenn er zum Schlafen in seinen Winkel hinter der Treppe gesperrt wurde. Tagsüber jedoch wurde der Abfall auf den Straßen der Stadt zu seiner Bibliothek – Zeitungen, Magazine, sogar die wenigen Fetzen von Büchern, die den Weg in den Londoner Osten fanden, landeten unweigerlich im Rinnstein und schließlich im geheimen Versteck des Jungen, unter einer losen Diele. Diese Gedankenfetzen auf Papier waren seine einzige Freude, und seine Schwester, nicht ganz ein Jahr nach Vaughns Ankunft geboren, war seine einzige Passion. Sie verfügte nicht über die Fähigkeiten ihres Bruders, doch war es ihr glücklicherweise erspart geblieben, die unmenschliche Trägheit ihrer Mutter zu erben.
    Jeden Mittag, wenn Vaughn zur Arbeit ging und die Mutter der Kinder inmitten eines Haufens halbleerer Flaschen zusammenbrach, saßen die beiden Geschwister beisammen und lasen Geschichten über eine Welt, die für sie auch dann unerreichbar gewesen wäre, wenn sie nur einige Straßen weiter gelegen hätte. Aus ihrer Sicht war diese Welt jedoch weiter entfernt als die Sonne. Der Junge las mit Begeisterung vor, denn er liebte seine Schwester über alles; sie hörte mit Begeisterung zu, denn er war ihr Held. Beide achteten darauf, dass weder Vaughn noch ihre Mutter sie je mit ihrem Lesestoff antrafen. Ihre Eltern ernährten und kleideten sie auch so schon dürftig genug, und sie nötigten ihnen fauliges Brot und Lumpen auf. Dem Jungen war es gleich, da er ihre spärliche Nahrung heimlich durch Gemüse bereicherte, das er sich mit Treppenkehren im Laden am Ende der Straße verdiente. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass es für ihre Eltern schlichtweg einfacher war, sie am Leben zu erhalten, als sie verhungern zu lassen.
    Der Junge hatte ein Buch gefunden – das erste vollständige Buch, das er je gesehen hatte: Im Dunkeln von Thomas Hardy. Es war wundervoll geschrieben, und die Figuren faszinierten ihn. Die Geschichte schien ihm mit großer Leidenschaft erzählt. Am meisten beeindruckte den Sechsjährigen der tragische Höhepunkt. Darin erfährt ein kleiner Junge, der wie sein Vater Juda heißt, dass er mit seinen Eltern und zwei kleinen Schwestern aus der Wohnung gejagt und auf die Straße gesetzt werden soll, »weil sie zu viele sind«. Der Vater und seine Frau kehren am nächsten Morgen in die Wohnung zurück; sie haben Arbeit gefunden, die es ihnen ermöglicht, mit ihrer Familie in eine ausreichend große Unterkunft umzuziehen. Sie finden eisige Stille vor, und einen an die Schlafzimmertür gehefteten Zettel: »Weil wir zu viele sind…«. Drinnen hängt der Junge Juda leblos von der Decke und schaukelt leicht hin und her. Er wirft einen Schatten über die reglosen Körper seiner Schwestern, und eine dünne Schnur schneidet tief in seine schmale, bleiche Kehle.
    Bis zu dieser Stelle hatte der Junge gelesen, als ihm das Taschenbuch unvermittelt aus den Händen gerissen wurde. Er war so in die Geschichte vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie die Schatten länger geworden und Vaughn nach Hause gekommen war, bedeckt mit Fisch und Schmutz. Der stämmige Mann blätterte in dem zerfledderten Buch, bemerkte das offene Versteck unter der Diele, und bedachte das Kind mit einem verachtenden Blick. Der Junge starrte zurück, und er ließ zu – noch immer
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