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Die ewige Bibliothek

Die ewige Bibliothek

Titel: Die ewige Bibliothek
Autoren: James A. Owen
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verdrossen über den Verlust seines Buches –, dass sich der schützende Nebel vor seinen Augen lichtete. Vaughn sah hinein und erblickte dort eine Intelligenz, die größer war als die seine; und er erkannte, dass sich der Junge dessen bewusst war. Fest schlug er seinem Stiefsohn ins Gesicht, doch der Junge schüttelte nur den Kopf und starrte ihn an, während ihm das Blut aus den Mundwinkeln rann. Genauso beim zweiten Schlag, beim vierten und beim achten. Der Mann geriet in Wut und sah sich gerade nach einer Waffe um, nach irgend etwas, das dem Jungen einen Schrei der Angst, des Schmerzes oder des Entsetzens entlocken würde, als beide hörten, wie sich im Nachbarzimmer etwas regte.
    Die Schwester des Jungen, die unter dem Küchentusch geschlafen hatte, wurde nicht schnell genug wach, um die Bosheit in den Augen ihres Vaters zu bemerken, oder die plötzliche Angst im Blick ihres Bruders. Erst als Vaughn sie grob am Arm packte und zur Tür hinauszerrte, begann sie hoch und schrill zu weinen. Der Junge schlug all seinen Stolz in den Wind, und flehte seinen Stiefvater inständig an, von seinem Vorhaben abzulassen.
    Vaughn zerrte die Kinder durch die schmutzigen Straßen zum Hafen hinunter und stieß sie – achtlos und wachsam zugleich – in ein winziges, ramponiertes Boot. Er löste die Leine aus der Verankerung und ruderte mit ihnen in den dunkler werdenden Dunst hinaus.
    Wie viel Zeit verging, konnte der Junge nicht feststellen, der Nebel wischte jedes Zeitgefühl fort. Sein Stiefvater drehte sich gelegentlich mit einem bösen Grinsen zu ihnen um; seine Schwester trug den Ausdruck eines gehetzten Tieres, dem bewusst war, dass der Todesschuss bereits gefallen war und bald sein Ziel finden würde. Das Gesicht des Jungen war ausdruckslos. Er wartete einfach, als hebe er seine Gefühle für ein Ereignis auf, das noch nicht eingetreten war, sich jedoch bereits am Horizont abzeichnete.
    Als das Boot eine Stunde später in den Hafen zurückkehrte, saß der Mann allein darin.
    Seine Frau fragte ihn weder nach dem Verbleib der Kinder, noch kümmerte es sie – er hatte eine volle Flasche Wodka mitgebracht. Sie leerten sie innerhalb kürzester Zeit und schliefen noch immer ihren Rausch aus, als eine kleine, zitternde Gestalt zögernd zur Tür hereintappte, stehen blieb und sie betrachtete.
    Der Junge stand stundenlang da, reglos, die Kleider durchnässt und mit Seetang bedeckt, und starrte diejenigen an, die einem Kind alles Nötige hätten vermitteln sollen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Ihm war bewusst geworden, dass er eine solche Unterstützung nie erfahren würde.
    Es bedurfte großer Mühe – der zweitgrößten Anstrengung seines Lebens –, doch als er schließlich fertig war, hingen seine Eltern von der Decke herab. Wie sie dort keinen halben Meter über dem Teppich schaukelten, sahen sie nicht anders aus als sonst, zusammengesunken auf der Couch. Es wirkte nicht wie ein Mord, sondern wie ein Versuch, Ordnung zu schaffen. Der Abend hätte kein anderes Ende finden können. Ein Zettel wurde nicht hinterlassen; das war nicht nötig.
    Als der Morgen anbrach, verließ der Junge die Wohnung ohne einen Blick zurück. Zu diesem Zeitpunkt gab er sich den Namen Juda – er hatte zu sich selbst gefunden.
     

     
    Juda hockte im Schneidersitz auf einer Bank vor dem Festspielhaus. Der Herbstregen der vergangenen Nacht hatte einen angenehm kräftigen Geruch in der Luft hinterlassen und eine Feuchtigkeit, die sich wie ein Schleier über seine Augen legte. Die Menschen, die vor dem gewaltigen Bau aus Holz und Backstein hin und her liefen, schienen in ihren Konturen verschwommen, fast unscharf. Von den Dutzenden Menschen im Park, den Hunderten in dem Gebäude, den Tausenden in der umliegenden Stadt, den Millionen überall auf dem Kontinent und den Milliarden, die auf dem Planeten Atem holten, wusste allein Juda, dass dieser Dunst keine vom Regen verursachte Illusion war. Es spielte auch keine Rolle – die Welt würde schon bald ihre klaren Konturen zurückgewinnen.
    Er musste keinen Blick auf seine Uhr werfen, um zu wissen, dass nur noch wenige Minuten blieben, bevor das Chaos losbrach. Er fragte sich, wie viel Zeit das Publikum benötigen würde, ehe es begriff, was auf der Bühne vor sich ging. Er präzisierte den Gedanken: ehe das Publikum begriff, was scheinbar auf der Bühne vor sich ging.
    Wie auf ein Zeichen drangen vereinzelte Schreie durch die Pforten des Festspielhauses. Das waren wohl die treuen Anhänger,
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