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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman
Autoren: Marc Levy
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aktuell war, und was er ihr zu sagen hätte, duldete keinen Aufschub.

Mianyang, China
    Ich erwache am frühen Morgen. Die alte Dame, die nachts bei mir geblieben ist, schlummert in einem großen Sessel. Ich schiebe die Decke beiseite, die sie über mich gelegt hat, und richte mich auf. Sie öffnet die Augen, bedenkt mich mit einem wohlwollenden Blick und legt den Finger auf die Lippen, um mir zu bedeuten, keinen Lärm zu machen. Dann erhebt sie sich und holt eine Teekanne von dem gusseisernen Ofen. Ein Paravent trennt den Raum, in dem wir uns befinden, vom Restaurant ab. Jetzt sehe ich, dass rund um mich herum die Familienmitglieder auf ihren Matten am Boden schlafen. Zwei Männer von etwa dreißig Jahren liegen vor dem einzigen Fenster, einer von ihnen ist der Kellner vom Abend zuvor, der andere der Koch. Die jüngere Schwester, die um die zwanzig sein muss, hat ihr Lager neben dem Kohleofen aufgeschlagen, der Mann meiner Wirtin schlummert, ein Kissen unter dem Kopf, auf einem Tisch. Er trägt einen Pullover und eine dicke Wolljacke. Ich habe auf dem Sofa genächtigt, das das Paar normalerweise für sich ausklappt. Jeden Abend schiebt diese Familie die Tische des Restaurants beiseite, um den Hinterraum in einen Schlafsaal zu verwandeln. Es ist mir unendlich peinlich, mich so in ihre Intimsphäre gedrängt zu haben - sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann. Wer in London hätte sein Bett geopfert, um einen Fremden zu beherbergen?
    Die alte Frau reicht mir eine Schale dampfenden Tees. Wir können uns nur durch Gesten verständigen.

    Ich nehme meine Tasse und schleiche in den Restaurantteil. Sie schiebt den Paravent hinter mir zu.
    Die Uferpromenade ist menschenleer, ich laufe zur Brüstung und sehe auf den vom Morgennebel verhüllten Fluss, der gen Westen fließt. Eine kleine Dschunke gleitet langsam übers Wasser. Der Schiffer, der an Deck steht, winkt mir freundlich zu, und ich erwidere seinen Gruß.
    Ich friere, schiebe meine Hände tiefer in die Taschen und spüre Keiras Foto.
    Warum denke ich in diesem Augenblick an unseren Abend in Nebra? Ich erinnere mich an unsere gemeinsame Nacht, die freilich sehr bewegt war, uns aber einander so viel näher gebracht hat.
    Gleich breche ich zum Kloster Garther auf, ich weiß weder wie lang der Weg sein wird noch wie ich mir Zutritt verschaffen soll. Aber das ist auch nicht wichtig, es ist die einzige Spur, die zu dir führt…, sofern du überhaupt noch lebst.
    Warum fühle ich mich so schwach?
    Wenige Schritte von mir entfernt ist eine Telefonzelle. Ich möchte Walters Stimme hören. Die etwas kitschige Kabine sieht aus wie ein Relikt aus den Siebzigerjahren. Der Apparat funktioniert mit Kreditkarte. Sobald ich die Nummer eintippe, ertönt das Besetztzeichen. Vermutlich ist es nicht möglich, von hier aus ins Ausland anzurufen. Nach zwei weiteren Versuchen gebe ich auf.
    Es ist Zeit, mich von meinen Gastgebern zu verabschieden, mein Abendessen zu bezahlen und mich auf den Weg zu machen. Sie wollen kein Geld. Also bedanke ich mich wiederholt und verlasse sie.
     
    Am späten Vormittag erreiche ich endlich Chengdu, eine hektische, verschmutzte und aggressive Metropole. Doch zwischen
Hochhäusern und großen Gebäudekomplexen gibt es immer wieder kleine Häuser, von denen zwar der Putz abbröckelt, die aber überdauert haben. Ich suche den Weg zum Busbahnhof.
    Vielleicht treffe ich auf der Touristenmeile Jinli-Street Landsleute, die mir weiterhelfen könnten.
    Die Flora im Nanjiao-Park ist wunderschön, Barken aus längst vergangener Zeit ziehen im Schatten von Trauerweiden friedlich über den See.
    Ich sehe ein junges Paar, dessen Erscheinung vermuten lässt, dass es sich um Amerikaner handelt. Die beiden Studenten erklären mir, sie seien in Chengdu, um im Rahmen eines universitären Austauschs ein Aufbaustudium zu absolvieren.
    Sie freuen sich, wieder einmal ihre Muttersprache zu hören, und erklären mir, der Busbahnhof befinde sich auf der anderen Seite der Stadt. Die junge Frau zieht einen Block aus ihrem Rucksack, schreibt in perfekter chinesischer Kalligrafie etwas darauf und reicht mir den Zettel. Ich nutze die Gelegenheit und bitte sie, auch den Namen Garther zu notieren.
    Meinen Wagen habe ich auf einem Parkplatz abgestellt. Ich nehme die Kleidung heraus, die mir der Lama gegeben hat, ziehe mich im Auto um und stecke noch einen Pullover und einige persönliche Sachen in meine Tasche. Den Jeep lasse ich lieber hier zurück und nehme ein Taxi.
    Der
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