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Die Erscheinung

Titel: Die Erscheinung
Autoren: Danielle Steel
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erörtert. Nun bedrückte ihn die Tatsache, dass er seit dem Tod seiner Eltern keine Familie hatte - keine Vettern und Kusinen, keine Großeltern, keine Tanten und Onkel. In seinem Leben gab es nur Carole. Sie hatte ihm alles bedeutet. Zu viel, wie er jetzt erkannte. Am gemeinsamen Leben in all den Jahren hätte er nichts ändern wollen. Für ihn war es vollkommen gewesen. Niemals langweilte sie ihn. Sie stritten nur selten.
    Weder sie noch ihn störten die zahlreichen beruflich bedingten Trennungen. Umso schöner war die Heimkehr. Charlie liebte es, nach einer Geschäftsreise sein Haus zu betreten und Carole mit einem Buch auf der Couch im Wohnzimmer liegen zu sehen. Oder noch besser - sie döste vor dem Kamin. Meistens arbeitete sie noch, wenn er aus Brüssel, Tokio oder Paris zurückkam. Aber wenn er sie daheim antraf, war sie nur noch für ihn da. Niemals erweckte sie den Eindruck, er würde hinter ihrem Job an zweiter Stelle stehen. Wenn das gelegentlich geschah - wenn sie sich um einen besonders wichtigen Fall oder einen schwierigen Klienten kümmern musste, ließ sie's ihn nicht merken. Deshalb glaubte er stets, ihre Welt würde sich nur um ihn drehen. So war es neun exquisite Jahre lang gewesen, bis das Glück ein jähes Ende genommen hatte. Und nun fühlte er sich elend - als wäre sein Leben vorbei.
    Gnadenlos verfolgten ihn die Erinnerungen auf dem Flug nach New York. Vor genau fünfzehn Monaten, im August, hatte Caroles Affäre mit Simon begonnen. Das hatte sie bei ihrem Geständnis erwähnt. Sie war ehrlich gewesen, und Charlie konnte ihr nichts vorwerfen - nur dass sie ihn nicht mehr liebte. Sechs Wochen lang hatte sie mit Simon in Paris zusammengearbeitet, um einen Klienten in einem bedeutsamen, nervenaufreibenden Prozess zu verteidigen. Unterdessen führte Charlie komplizierte Verhandlungen mit neuen Auftraggebern in Hongkong. Fast drei Monate lang war er jede Woche hingeflogen und hatte kaum Zeit für seine Frau gefunden. Damit versuchte sie ihr Verhalten nicht zu entschuldigen. Nicht seine Abwesenheit habe die Ehe zerstört, sondern das Schicksal - und Simon, betonte sie. Er habe sie einfach überwältigt, und wenn es auch falsch sei, ihn zu lieben, könne sie nichts dagegen tun. Anfangs hatte sie sich bemüht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Das schaffte sie nicht. Sie bewunderte ihn schon so lange, mochte ihn, und sie hatten sehr viel gemeinsam. Mit Charlie sei es jahrelang so ähnlich gewesen, erklärte sie, wunderbar und aufregend.
    »Und wann hat sich das geändert?«, fragte er bedrückt, während sie an einem regnerischen Nachmittag durch Soho wanderten. Ihre Ehe sei immer noch wunderbar und aufregend, versicherte er hilflos. Genauso wie am Anfang. Aber Carole schaute ihn an, schüttelte fast unmerklich den Kopf und widersprach unter Tränen. Jetzt würden sie zu oft getrennte Wege gehen. Sie hätten verschiedene Bedürfnisse und würden zu viel Zeit mit anderen Leuten verbringen. Aus beruflichen Gründen seien sie oft getrennt gewesen. Jetzt genoss sie es, jeden Tag mit Simon beisammen zu sein, und er würde für sie sorgen, wie es Charlie niemals getan habe. »Wie denn?«, fragte er flehend. Das vermochte sie nicht genau zu erklären. Es hing nicht nur mit Simons Benehmen zusammen, sondern auch mit der diffizilen Welt der Träume, Wünsche und Gefühle, mit jenen undefinierbaren, winzigen, subtilen Dingen, die einen bewogen, jemanden zu lieben -selbst wenn man sich dagegen wehrte. Bei diesen Worten begann auch Charlie zu weinen.
    Als sie Simons Drängen nachgegeben hatte, war sie sicher gewesen, die Affäre würde nicht lange dauern. Nur eine vorübergehende Indiskretion, nahm sie sich vor und meinte es ernst. Es war ihr erster Seitensprung, und sie wollte ihre Ehe nicht gefährden. Auf dem Rückflug von Paris nach London versuchte sie, mit Simon Schluss zu machen, und er beteuerte, das würde er verstehen. Er gab zu, er sei seinen drei Ehefrauen oft untreu gewesen. Hinterher habe er das meistens bedauert, versicherte er, und er kenne sich sehr gut aus in der Welt des Betrugs und Verrats. Und wenn er derzeit auch ein Single war, konnte er Caroles Gewissensqualen nachempfinden und begreifen, dass sie sich ihrem Mann gegenüber verpflichtet fühlte. Aber keiner von beiden hatte bedacht, wie sehr sie einander vermissen würden, wenn sie wieder getrennt in London lebten. Das ertrugen sie nicht. Und so begannen sie, das Büro nachmittags gemeinsam zu verlassen, um in seine Wohnung zu gehen.
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