Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
verschwinden.
    Solche Wahrnehmungen waren typisch für jene Jahre und vor allem für mich, sie hatten etwas von skurrilem Autismus, denn das kleine Kind, das ich war, protokollierte die Welt unaufhörlich in den sonderbarsten, selbst erfundenen und beinahe manisch perfektionierten Systemen. Von diesen Systemen gab es sehr viele, und ich hatte sie alle im Kopf: Das Zeitschriften-Beobachtungssystem, mit dessen Hilfe ich mir die Titelblätter der Zeitschriften merkte, das große Lauschsystem, in dem ich die Stimmen und Klänge speicherte, vor allem aber das System der fertigen Sätze und Redewendungen, die von den anderen Menschen immer wieder zu bestimmten Gelegenheiten gebraucht wurden.
    All diese immer wiederkehrenden Sätze und Redewendungen versuchte ich mir zu merken, indem ich sie Menschen, Situationen und Bildern zuordnete, so glaubte ich, zumindest heimlich etwas von der Sprache mitzubekommen. Hören und sehen, wie die Sprache gebraucht wurde, konnte ich ja schließlich sehr gut, und genau das versuchte ich, mir zunutze zu machen, als lernte ich für den Ernstfall, für den einen großen Moment, von dem an ich sprechen würde, einfach so, wie nach einem Urknall.
     
    Im täglichen Leben aber führten meine Beobachtungssysteme und all meine anderen seltsamen Spleens dazu, dass ich viel Zeit wie in Trance herumsitzend oder -liegend verbrachte, in Gedanken versunken, nur mit mir selbst beschäftigt. Heute erscheint es mir merkwürdig, dass niemand sich daran störte oder versuchte, mich aus diesem Dasein herauszulocken. Im Grunde kümmerte sich niemand um mich, selbst die Mutter nicht, die den ganzen Tag viel mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten beschäftigt und anscheinend damit zufrieden war, dass sie mich nicht ununterbrochen zu unterhalten brauchte, sondern mich mir selbst überlassen konnte.
    Außerdem erweckte ich ja nicht den Anschein, unglücklich oder gelangweilt zu sein, auch begehrte ich niemals auf oder geriet mit der Mutter in Streit. Es gab keine Auseinandersetzungen und nur selten kleinere Missverständnisse, wie ja auch die Eltern fast niemals miteinander stritten, sondern den Eindruck eines Liebespaares machten, das mit großer Vorsicht und einer geradezu rührenden Hilfsbereitschaft miteinander umging.
    Bestimmt war diese Innigkeit, die auch fremde Menschen oft erstaunte, letztlich noch ein weiterer Grund dafür, dass wir drei uns so sehr von der Außenwelt abschotteten, die Eltern traten auf, als gehörten sie seit ewigen Zeiten zusammen und bräuchten niemand weiteren zu ihrem Glück. Ich selbst aber war der sichtbare Ausdruck ihrer Zusammengehörigkeit und daneben das stumme und gesteigerte Bild allen Leids, das ihnen widerfahren war. Wahrhaftig hatte ich in diesen Jahren auch nie das Gefühl, im Mittelpunkt ihres Lebens zu stehen, ich war nicht das behütete, verwöhnte oder mit Liebe überschüttete Kind, sondern eine Art herumwandelndes Phantom, von dem man niemals genau wusste, was in ihm gerade vorging und wie es tickte.
    Als ein solches, oft nur am Rande wahrgenommenes Wesen lief ich während unserer gemeinsamen Spaziergänge hinter den Eltern her oder begleitete sie auf meinem Roller, während Mutter und Vater meist eng zusammen gingen. Vater legte den Arm um die Mutter, oder Mutter hängte sich bei ihm ein, und oft gaben sie sich in fast regelmäßigen Abständen einen Kuss, als wollten sie damit ihr gegenseitiges Einverständnis besiegeln. Fast immer küsste Vater die Mutter zuerst, und fast jedes Mal schaute ich vorher, wenn sich Derartiges anbahnte, genauer hin, um zu sehen, wohin genau der Vater die Mutter küssen würde, ob auf die Stirn, den Mund oder etwas seitlich, hinter das Ohr, auf den Hals.
    Die Küsse auf die Stirn waren die häufigsten, während die Küsse auf den Mund viel seltener waren, weil hierzu ja auch gehörte, dass die Mutter ebenfalls Lust hatte, den Vater zu küssen. Der seltsamste Kuss aber war der Kuss des Vaters hinter das Ohr auf Mutters Hals, es war, wie ich damals annahm, der verliebteste Kuss, und er kam vor allem in Augenblicken vor, in denen man dem Vater seine Verliebtheit anmerkte oder in denen er zeigen oder beweisen wollte, wie verliebt er war.
    Solche Liebesküsse waren ganz anders als die Küsse, die ich selbst von den Eltern erhielt. Als das Kind, das sie begleitete, wurde ich dann und wann zwar ebenfalls kurz geküsst und manchmal auch abgeküsst, die Liebesküsse aber waren intensiver, wie ein Austausch unter Berauschten, deshalb lösten sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher