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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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vom 22. 10. 39, aber nie abgeschickt.
    «Ich habe keine Worte für diesen Brief … Ich schrieb ihn irgendwo im weiten Raum. Kann sein, Du kommst zurück, und da bin ich schon nicht mehr. Dann wär dies das letzte Andenken … Dieses Leben ist lang. Wie schrecklich lang und mühsam für einen, wenn er und wenn sie allein zugrunde gehen müssen. Ist uns beiden Unzertrennlichen wirklich dieses Los beschieden? Waren wir nicht junge Hunde, Kinder, und Du, der Engel, der sich meiner würdig erwies? Und alles geht weiter. Ich weiß nichts mehr. Und doch weiß ich alles, und jeder Tag ist Dein und jede Stunde, und wie im Fieber ist mir alles überdeutlich klar … Und dann dieser letzte Traum: Ich kaufe an einem schmutzigen Büfett einer dreckigen Wirtschaft irgendwas zu essen. Mit mir waren irgendwelche fremden Leute, und wie ich einkaufe, da begriff ich, dass ich ja gar nicht weiß, wohin ich das Gute denn nun bringen soll, denn ich weiß ja nicht, wo Du bist. Als ich aufwachte, sagte ich zu Schura: Orja istgestorben. Ich weiß wirklich nicht, ob Du noch lebst, aber von diesem Tag an verlor ich Deine Spur. Ich weiß nicht, wo Du bist. Hörst Du mich vielleicht? Weißt Du, wie sehr ich Dich liebe? Ach, ich habe es nicht geschafft, Dir zu sagen, wie sehr ich Dich liebe. Ich kann es auch jetzt nicht sagen. Ich sag nur eins: Du, Du … Du bist immer bei mir, und ich, die Böse und Wilde, die niemals richtig weinen konnte, ich weine, ich weine … Ich bin’s: Nadja. Wo bist Du?»

    Er legt ein leeres Blatt vor sich auf den Tisch, nimmt seinen Federhalter und schreibt.
    Der Himmel ist blau und schwarz und grau und gelb. Der Himmel ist nicht da, und er ist rot. All das war gestern. All das ist hundert Jahre her. Der Himmel ist weiß. Er riecht nach der Erde, und er ist nicht da. Der Himmel ist weiß wie die Erde, und er riecht nach Gestern. All das war morgen. All das war in hundert Jahren. Der Himmel ist zitronengelb und rosenrot und lavendelfarben. Der Himmel ist die Erde. Der Himmel ist weiß, und er ist nicht da.
    Er wacht auf. Er geht zwischen Tisch und Fenster auf und ab. Er setzt sich. Er steht auf. Er geht zwischen Bett und Stuhl auf und ab. Er legt sich hin. Er starrt an die Decke. Er schließt die Augen. Er öffnet die Augen. Er geht zwischen Tisch und Fenster auf und ab.

    Er nimmt ein neues Blatt Papier. Er legt es vor sich auf den Tisch, nimmt seinen Federhalter und schreibt.
    Es war. Es wird nie wieder sein. Erinnere dich.

    (1980–1981)

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    Anhang
    Quellennachweise von Zitaten, soweit nicht im Text erwähnt

S. 114
«Israel Lichtenstein’s Last Testament», in: A Holocaust Reader. Hg. Lucy S. Dawidowicz. New York, 1976.
S. 119
Flaubert, Gustave: The Letters of Gustave Flaubert , selected, edited, and translated by Francis Steegmüller. Cambridge, 1979. Deutsche Fassung vom Übersetzer, da in keiner deutschen Ausgabe enthalten.
S. 129
Tsvetayeva, Marina: Selected Poems. Translated by Elaine Feinstein. Oxford, 1971. Deutsche Fassung vom Übersetzer, da in keiner deutschen Ausgabe nachweisbar.
S. 130
Altschuller, Gregory I.: Marina Tsvetayeva: A Physician’s Memoir. In: SUN. Vol. IV, Nr. 3: Winter 1980, New York.
S. 133
Wright, Christopher. In: Rembrandt and His Art. New York, 1975.
S. 134
Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Stuttgart, 1943.
S. 176
B. = André du Bouchet. In: Hölderlin Aujourd’hui: Vortrag, gehalten in Stuttgart, 1970.
S. 179
Collodi, Carlo: Pinocchios Abenteuer. Deutsch von Nino Erné. Frankfurt am Main 1988. Alle weiteren Zitate nach dieser Übersetzung, zum Teil leicht abgewandelt.
S. 192
Snow, Edward A.: A Study of Vermeer. Berkeley, 1979.
S. 195
van Gogh, Vincent: Sämtliche Briefe. In der Neuübersetzung von Eva Schumann. Hg.: Fritz Erpel. Zürich 1965.
S. 201
Tolstoi, Leo: Krieg und Frieden. Deutsch von Marianne Kegel. München 1956.
S. 204
Freud, Sigmund: «Das Unheimliche». In: Studienausgabe, Bd. IV. Frankfurt am Main 1970.
S. 205
Tausendundeine Nacht: Sämtliche Zitate nach: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Deutsch von Enno Littmann. Wiesbaden 1953. Alle weiteren Zitate aus dieser Übersetzung, zum Teil leicht abgewandelt.
S. 213
Dostojewski, F.M.: Die Brüder Karamasoff. Deutsch von Karl Nötzel. Gütersloh 1957.
S. 213
Harrison, Jim: Zitiert in William Shawcross: «The End of Cambodia?» The New York Review of Books , 24. Januar 1980.
S. 216
Frank, Anne: Das Tagebuch der Anne Frank. Deutsch von Anneliese
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