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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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anderen Jungen zusammenstieß und so heftig zu Boden stürzte, dass er in den nächsten fünf oder zehn Minuten alles wie ein Fotonegativ sah. Er erinnert sich, wie er sich hochrappelte und auf das Schulgebäude zuging und dachte, ich bin blind. Er erinnert sich, wie seine Panik innerhalb dieser wenigen Minuten in Ergebung und sogar Faszination überging und wie er, als sein normales Sehvermögen allmählich zurückkehrte, das Gefühl hatte, in seinem Inneren habe sich etwas ganz Außerordentliches zugetragen. Er erinnert sich an seine Bettnässerei, nachdem dies längst keine akzeptable Sache mehr war, und an die eiskalten Laken, in denen er morgens dann aufwachte. Er erinnert sich, wie er zum ersten Mal eingeladen wurde, im Haus eines Freundes zu übernachten, und wie er dort die ganze Nacht wach lag, aus Angst, das Bett nass zu machen und sich zu demütigen, und wie er die grünen Leuchtzeiger der Uhr anstarrte, die er zu seinem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Er erinnert sich, wie er die Illustrationen in einer Kinderbibel studierte und die Tatsache akzeptierte, dass Gott einen langen weißen Bart hatte. Er erinnert sich, wie er dachte, dass die Stimme, die er in seinem Innern hörte, die Stimme Gottes sei. Er erinnert sich, wie er mit seinem Großvater zum Zirkus im Madison Square Garden ging und in der Nebenvorstellung einem zweieinhalb Meter großen Riesen für fünfzig Cents einen Ring vom Finger zog. Er erinnert sich, dass er den Ring neben der Fotografie von Gabby Hayes auf seiner Kommode liegen hatte und dass er da vier seiner Finger auf einmal hineinstecken konnte. Er erinnert sich, wie er überlegte, dass die ganze Welt womöglich in einem Glaskrug steckte und neben Dutzenden anderer Krug-Welten auf einem Regal in der Speisekammer eines Riesen stehen könnte. Er erinnert sich, dass er sich weigerte, in der Schule Weihnachtslieder zu singen, weil er ein Jude war, und dass er allein im Klassenzimmer zurückblieb, wenn die anderen Kinder in der Aula üben gingen. Er erinnert sich an seinen ersten Tag in der jüdischen Schule; als er in seinem neuen Anzug nach Hause ging, wurde er von älteren Jungen in Lederjacken als Scheißjude beschimpft und in einen Bach gestoßen. Er erinnert sich, dass er sein erstes Buch, eine Kriminalgeschichte, mit grüner Tinte niederschrieb. Er erinnert sich, dass er dachte, wenn Adam und Eva die ersten Menschen auf der Erde waren, dann muss doch jeder mit jedem anderen verwandt sein. Er erinnert sich, dass er aus dem Fenster der Wohnung seiner Großeltern am Columbus Circle einen Penny werfen wollte und dass seine Mutter ihm sagte, der werde jemandem mitten durch den Kopf fahren. Er erinnert sich, wie er von der Spitze des Empire State Building nach unten sah und zu seiner Überraschung feststellte, dass die Taxis noch immer gelb waren. Er erinnert sich, wie er mit seiner Mutter die Freiheitsstatue besuchte, und er erinnert sich, dass sie in der Fackel ganz nervös wurde und ihn veranlasste, rückwärts, im Sitzen, Stufe für Stufe zurückzugehen. Er erinnert sich an den Jungen, der bei einer Wanderung im Ferienlager durch einen Blitz getötet wurde. Er erinnert sich, wie er dort im Regen neben ihm lag und die Lippen des Jungen blau werden sah. Er erinnert sich an seine Großmutter, die ihm erzählte, dass sie sich erinnere, wie sie mit fünf Jahren von Russland nach Amerika gekommen sei. Er erinnert sich, dass sie ihm erzählte, sie erinnere sich, wie sie aus tiefem Schlaf erwacht sei und sich in den Armen eines Soldaten gefunden habe, der sie gerade aufs Schiff trug. Er erinnert sich, dass sie ihm erzählte, dies sei das Einzige, woran sie sich erinnern könne.

    Das Buch der Erinnerung. Später am selben Abend.
    Kurz nachdem er die Worte «dies sei das Einzige, woran sie sich erinnern könne» hingeschrieben hatte, stand A. von seinem Tisch auf und ging aus dem Zimmer. Ausgelaugt von den Anstrengungen dieses Tages, ging er die Straße entlang und beschloss, noch eine ganze Weile so weiterzugehen. Es wurde dunkel. Er ging irgendwo essen, breitete vor sich auf dem Tisch eine Zeitung aus, und nachdem er die Rechnung beglichen hatte, beschloss er, den Rest des Abends im Kino zu verbringen. Er brauchte fast eine halbe Stunde, bis er dort angelangt war. Er wollte gerade seine Eintrittskarte kaufen, als er es sich anders überlegte, das Geld in die Tasche zurückschob und wieder wegging. Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Unterwegs trank er irgendwo
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