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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks
Autoren: Jörg Zipprick
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Hagiografien, egal ob der Herr am Herd selbst zur Feder griff oder Zeitgenossen ihn in Werken würdigten.
    Der Protagonist war ein Mann (viel seltener: eine Frau) ohne Fehl und Tadel, zielstrebig, fleißig und kreativ, somit also der kulinarischen Verehrung würdig. Und ab und zu behauptete einer oder gleich zwei, sie hätten eine »neue Küche« erfunden. Die weitaus meisten großen Köche haben freilich weder die Welt des Kulinarischen umgekrempelt noch »neue Küchen« erfunden.
    Quer durch die Jahrhunderte wirkten sich Horden von kleinen und großen Veränderungen auf die Küche aus, zum Beispiel verbesserte Transportwege, ausgefeiltere Kühltechniken oder zuvor nicht verfügbare Zutaten. Die sicherlich größten Revolutionen in der Küchenlandschaft der letzten 1000 Jahre entstanden durch die Entdeckung der »Neuen Welt«. Reis, Tomaten, Kartoffeln, Schokolade, nichts davon gab es in unseren Breiten vor der Entdeckung Amerikas. Gerichte, die wir heute als kulinarisches Erbe Europas betrachten, waren unbekannt. Weder Spaghetti mit Tomatensauce noch Schweinebraten mit Kartoffeln standen auf dem Speiseplan unserer Vorfahren. Und weiter: Ohne zahlungskräftige Klientel, ohne gute Zutaten undohne zuverlässige Lieferanten kann es keine »große Küche« geben. Die Grande Cuisine entwickelte sich folgerichtig erst, als die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt waren. Und sie war über lange Zeit ein Privileg der ganz Wenigen – wobei nach kurzen Demokratisierungsversuchen auch heute wieder die Gästeauswahl über den Menüpreis gesteuert wird.
    Auch wenn die Köche sich gern als maßgebliche Akteure jedweden kulinarischen Geschehens ausgeben, bleibt ihr Handwerk deshalb letztlich abhängig von den äußeren Umständen: ein Spielball der Geschichte.
    Quer durch die Küchengeschichte wurden über Jahrhunderte »neue Küchen« ausgerufen, haben Köche das Wirken ihrer Vorgänger als schwer und überladen kritisiert. Dabei wurde schon früh versucht, mit visuellen Effekten mancherlei zu maskieren. So etwa im 19. Jahrhundert, als einige Köche Stammkunden in Geschäften für Malerbedarf waren. Heute greifen ihre Kollegen mit beiden Händen in die prallvollen Schränke der Lebensmittelindustrie, bedienen sich an Farbstoffen, Emulgatoren und Flüssigaromen. Zuweilen, auch das ist nicht neu, trafen experimentierfreudige Köche auf eine Klientel, die schon alles zu kennen glaubte. Essen und Genuss traten in den Hintergrund, wurden abgelöst durch spektakuläre Effekte: Je nach Epoche brachen Köche die Hirnschalen von Flamingos auf, ließen mit Baumaterialien verstärkte »Butterschiffe« über die Tische wogen, oder sie bauen wie im 21. Jahrhundert Türmchen und Spiralen aus Zusatzstoffen. Kulinarische Moden verhalten sich wie ein Pendel: Nach jeder Periode extravaganter visueller Effekte riefen – und rufen – Köche und Kochbuchautoren dazu auf, zur reinen Lehre zurückzukehren und den Geschmack der natürlichen Zutaten neu zu entdecken. In den hohen Sphären des besseren Essens wurde – und wird – eben derjenige belohnt, dervermeintliche Neuerungen am besten zu verkaufen weiß. Das Klappern mit Schöpfkelle und Kochtopf gehört seit jeher zum Handwerk.
    Einige der historischen Kochrezepte, die ich für dieses Buch ausgewählt habe, wirken auch nach Jahrhunderten noch buchstäblich »zum Reinbeißen«, während andere eher irritierend ausfallen. Was wiederum auch für moderne Rezepte zutreffen kann.
    Rezepte von Köchen aus vergangenen Jahrhunderten können Anregungen liefern. Genau nachkochen kann sie niemand, denn niemand wird den Originalgeschmack heute auf die Teller bringen können. Nicht nur, dass alte Kochanleitungen keine Maße enthielten, da es noch keine verbindlichen Maßeinheiten wie Kilogramm gab. Wir wissen auch nichts über die verwendeten Zutaten. Eine mittelalterliche Karotte ist zum Beispiel mit ihrer heute erhältlichen Kollegin kaum vergleichbar. Ob Rind oder Schwein, Huhn, Ziege oder Lamm, wir haben keine Ahnung, welcher Rasse die Tiere angehörten, die auf den Tellern unserer Vorfahren landeten. Wir wissen oft nicht, wie sie gezüchtet, wie sie ernährt und in welchem Alter sie geschlachtet wurden. All diese Faktoren wirken sich auf den Geschmack aus. Was der Koch Antonin Carême am Hof des russischen Zaren kochte, werden wir deshalb nie mit eigener Zunge erleben dürfen.
    Ein Koch ist nicht nur, wer eine Kochlehre hinter sich gebracht hat – auch in diesem Buch nicht. Denn noch heute
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