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Die Erbsünde

Titel: Die Erbsünde
Autoren: Barnard Christiaan
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anderen Seite gibt es Erbkrankheiten, die man mit dem Mikroskop feststellen kann. Es gibt zum Beispiel überschüssiges genetisches Material, das schlimme Folgen haben kann, wie Mongolismus. Man hat jüngst entdeckt, daß fünfundzwanzig Prozent aller Spontanaborte auf verschiedene Abnormitäten im Chromosom zurückzuführen sind.«
    Deons Gedanken schweiften wieder ab. Er hatte nicht zu dieser Vorlesung kommen wollen. Es hatte sich so ergeben. Er dachte über Philips Worte nach: Die Abweichungen in der Erbmasse waren so winzig, daß man sie bestenfalls unter dem Mikroskop sehen konnte, und doch hatten sie für das menschliche Schicksal unabsehbare Folgen.
    Alles ergibt sich irgendwie, dachte er. Formlose Dinge formen unser Leben.
    Es war schon merkwürdig. Ganz merkwürdig.

Erster Teil

Frühling
1
    In wilder Hast stürmte er die Treppe hoch, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, als könne er durch übertriebene Eile seinen Gedanken ausweichen.
    Er rannte, ohne das Geländer zu berühren, und bei jedem Absatz schwenkte er weit nach außen und taumelte mit den Schultern gegen die Wand. Auf dem dritten Treppenabsatz stieß er fast mit einer ältlichen, behäbigen Nonne zusammen, die mit einem kleinen Schrei die Hände erhob. Mit einer gemurmelten Entschuldigung machte er einen Bogen um sie. Sie sah ihm tadelnd nach, aber er war schon eine Treppe höher, so schnell seine langen Beine ihn tragen wollten.
    Außer Atem erreichte er die vierte Etage. Die anderen Studenten standen bereits am Eingang zum Hörsaal, manche drehten sich verdutzt nach ihm um. Es war erst fünf vor zwölf. Kein Grund zur Eile. Er nahm Haltung an und sah auf seine Armbanduhr, als habe er sich nur in der Zeit geirrt und als sei das die Erklärung für seine unziemliche Hast. Er nickte dem einen oder anderen der Studenten zu, die verzeihend zurücknickten.
    Aber er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, und so ging er weiter den Gang entlang am Hämatologie-Laboratorium vorbei. Eine der Laborantinnen war sehr hübsch. Gewohnheitsmäßig steckte er den Kopf zur Tür hinein, aber sie war nirgends zu sehen. Enttäuscht ging er weiter, und seine Gedanken kreisten wieder um den einen Punkt. Wie eine Glocke im dichten Nebel hallte es eintönig in ihm: fünf Tage.
    Ach, das ist doch noch kein Grund zur Aufregung, versuchte er sich selbst zu überzeugen. Aber unerbittlich hallte es weiter: fünf Tage.
    Um nicht daran denken zu müssen, ging er ans Schwarze Brett und tat, als interessiere er sich für die Anschläge. Er stand ganz still und starrte die Zettel an, ohne sie zu sehen: ein großer, rötlichblonder junger Mann mit einem mageren Gesicht und düsteren Augen, die Funken sprühen konnten. Die Hände in den Taschen seines weißen Kittels, spielte er abwesend mit dem Stethoskop. Die grüne Borte am Kittel bezeichnete ihn als Studenten, und auf dem Namensschildchen am Aufschlag stand: G. P. Van der Riet. G wie Gideon, P wie Paulus. Im ersten Studienjahr hatten sie ihn ab und zu ›Jeep‹ genannt, aber später war er nur noch ›Deon‹, wie er immer geheißen hatte.
    Das Anschlagbrett war mit den üblichen Aufrufen zum Blutspenden und ernsthaften Ermahnungen des Verbandes Christlicher Studenten bedeckt. Er blieb davor stehen und ließ seine Kameraden in schwatzenden Grüppchen an sich vorbeiziehen.
    Plötzlich merkte er, daß er allein im Gang stand. Hinter der breiten Tür hörte man Getrampel und Stimmengewirr. Besorgt, nun wirklich zu spät zu kommen, folgte er den anderen in den Hörsaal. Ein dichtes Knäuel junger Männer am Ende der Bankreihen stob laut lachend auseinander. Um Deons Mund zuckte es unfreiwillig. Es mußte ein guter Witz gewesen sein. Robby hatte ihn erzählt. Sein schmales, sommersprossiges Gesicht schien wie immer unbeteiligt, aber die Augen hinter den Gläsern funkelten. Einer der jungen Männer winkte Deon zu, aber der tat, als bemerkte er es nicht, und ging nach vorn. Hier saßen nur wenige Studenten, die ernsthafteren und einzelgängerischen. Die Kolleghefte aufgeschlagen vor sich, zeigten ihre Gesichter erwartungsvollen Eifer. Deon schob sich in einen Eckplatz am Mittelgang. Dort hatte sich ein anderes Grüppchen gebildet, zwei Inder: er mit adrett gestutztem Schnurrbart und scheuem Blick, das Mädchen hübsch, aber mit einem Gesicht, aus dem es sorgfältig jeden Ausdruck bannte. Die anderen waren alle Farbige, alle Männer. Einer wandte sich Deon zu, als er sich hinsetzte. Er hatte sehr helle grüne Augen, die dem dunklen
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